AnnenMayKantereit: Über Corona-Frust und Trost durch Musik

AnnenMayKantereit: Über Corona-Frust und Trost durch Musik

Statt sich von Corona einbremsen zu lassen, haben AnnenMayKantereit einige Songs zum Thema geschrieben und diese recht überraschend als Album veröffentlicht. Mit ntv.de spricht Sänger Henning May unter anderem über verlorene Chancen und zarte Hoffnungen.

Eigentlich hatten AnnenMayKantereit in diesem Jahr einiges vor. Unter anderem sollte es nach Russland gehen. Dann kam Corona, und bei wie so vielen andere Menschen lagen alle großen Pläne und das Leben an sich plötzlich auf Eis.

Christopher Annen, Henning May und Severin Kantereit haben ihre unfreiwillige Freizeit genutzt, um Songs über die Gefühle zu schreiben, die all das auslöste. Entstanden ist so ein Album, auf dem AnnenMayKantereit das Kind beim Namen nennen. Und so sprechen aus den 16 Songs nicht nur positive Emotionen, sondern vor allem auch jede Menge Frust. ntv.de sprach mit Sänger Henning May über die Idee hinter dem Albumtitel „12“, verpasste Gelegenheiten in 2020 und seine persönliche Interpretation von Existenzangst.

ntv.de: Für eure Fans kommt dieses Album recht überraschend, ein bisschen Vorlauf aber wird es ja schon gebraucht haben. Wie wichtig war es euch, jetzt mit den Songs herauszugehen, wo sich ja gerade beinahe stündlich so vieles ändert?

Henning May: Ganz spontan können wir natürlich nichts veröffentlichen, aber wir wollten es so schnell wie möglich tun. Es gibt aber ja gewisse Voraussetzungen. Die Homepage muss aktualisiert werden, die Partner müssen das hochladen und so weiter. Bis zum 1. November war uns aber noch nicht so richtig klar, dass wir das schaffen, aber wir hatten den 17. angepeilt. Das ist für uns schon sehr spontan. Bei „Schlagschatten“ haben wir zwei Jahre an den Songs gesessen und sind damit getourt, ehe wir sie aufgenommen haben. Jetzt haben wir Mitte März angefangen, uns im Mai noch mal gesehen dafür, und im August war die Musik fertig.

Bis zum physischen Release dauert es dann noch einmal ein bisschen länger …

Wir machen Platten aus recyceltem Granulat. Dadurch sieht jede einzigartig aus. Für das Recyceln gibt es Slots. Es ist ein riesiger Wust, bis so ein Produkt mal fertig ist.

Vor allem, wenn man was Besonderes anbieten will.

Eben, die klassische CD mit einem Bild drauf braucht niemand mehr. Aber es war okay für uns, dass das physische Produkt, für das wir uns viel Mühe geben und das zum Beispiel klimaneutral produziert wird, etwas später kommt. Das hätten wir nicht zum schnellstmöglichen Release-Termin geschafft, und wir wollten aber auch nicht noch einmal zwei Wochen warten. Wir wollten das Album jetzt, in dieser Situation herausbringen. Was bringt es, wenn alles schon wieder in besseren Bahnen verläuft und man dann Musik darüber hört, wie es einmal war? Es ist gut, Musik dazu zu haben, wie es aktuell ist.

Ihr seid vielleicht nicht die erste Band, die in den letzten Monaten spontan entschieden hat, ein Album zu machen, aber die einzige, die das Thema Corona und den ganz persönlichen Frust mit der Situation so konkret beim Namen nennt. War dir das wichtig, auch als eine Art Selbsttherapie?

Erstmal haben wir drei es uns gewünscht, dass die Kunst, die wir machen, im passenden Kontext gehört wird. Aber es spielt auch mit rein, dass wir uns bei unseren Konzerten wie ein emotionaler Brandstifter fühlen. Man kann Sachen entfachen, auch mal jemanden trösten, zu Tränen rühren. Das ist das, was uns an unserem Job begeistert. Mit unserem Album wollen wir Sachen fühlbar machen, die sonst schwer fühlbar sind. Wir glauben, dass man Dinge nicht so richtig gut allein fühlen kann, das macht man lieber gemeinsam. Da muss der Punkt des Gemeinsamen entstehen. Wenn wir ein Album machen, was die Chance hat, Menschen zu verbinden, finde ich das einfach toll. Ich wollte was zurückgeben. Wir haben über die letzten Jahre unheimlich viel bekommen von den verschiedensten Menschen, durften unglaublich viel erleben. Das hat uns viel Selbstbewusstsein und viel Freiheit ermöglicht. Und diese Freiheit muss man ausnutzen, um ein paar Gefühle einzufangen.

Wenn ich es richtig verstehe, heißt das Album „12“, weil es eben Punkt zwölf ist, nicht fünf vor und auch noch nicht fünf nach. Hängt ihr emotional zwischen den Stühlen? Geht es um die Ambivalenz von Bangen und Hoffen?

Du hast es genau richtig verstanden. Es ist absolut richtig zu sagen, es ist eine totale Ambivalenz. Du kannst nicht sagen, es ist nur schlimm. Aber du kannst auch nicht sagen, es seien ganz viele schöne Sachen passiert, ohne zu erwähnen, wie fürchterlich alles ist. Das ist das Spannende, das wir Menschen lernen müssen, das Sachen immer beides sind. Auch ein Mensch, der sich total daneben benimmt, ist sicherlich irgendwann mal ein netter Mensch. Es ist jetzt zwölf. Die 24 Stunden davor waren, wie sie waren, und dieser Teil ist jetzt zu Ende. Und das ist hart.

Das habt ihr als Band auch zu spüren bekommen. Ihr hattet 2020 ja einiges vor.

Allerdings. Wir wollten alles machen. Größte Tour unseres Lebens. Zum ersten Mal im Ausland. In Moskau hätten wir zweimal vor 3000 Leuten gespielt, das war schon ausverkauft.

Glaubst du, dass es eines Tages die Chance gibt, das nachzuholen, oder ist das ersatzlos gestrichen?

Das große Problem ist, dass Putin sagt, sie hätten einen Impfstoff und alles sei gut. Aber wie wahrscheinlich ist es, dass wir in den nächsten zwei Jahren – beim aktuellen Status Quo – nach Russland fahren, zwei Wochen davor und zwei Wochen danach in Quarantäne gehen? Dann in einem Land, in dem das Regime total eskaliert und in dem wir offenbar eher von Leuten gehört werden, die regimekritisch sind? Ich sag es ganz ehrlich, die Türkei war schon grenzwertig für uns mit den Sicherheitskräften dort. Ich habe Respekt davor und möchte nicht verhaftet werden. Wir positionieren uns gerne zu bestimmten politischen Themen, und es gibt in den russischen Gruppen viel Footage davon, wie Malte und ich uns mal auf der Bühne geküsst haben. Wir gelten bei unseren russischen Fans auch ein bisschen als …

… sexuell offen?

Ja, genau. Danke. (lacht) Das ist etwas, das da im gesellschaftlichen Diskurs etwas schwieriger ist.

Rammstein haben es erlebt. Letztes Jahr haben sich die Gitarristen Kruspe und Landers zwei Minuten lang auf der Bühne in Moskau geküsst, als politisches Statement gegen die Übergriffe auf Homosexuelle im Land.

Das habe ich gar nicht mitbekommen, finde ich super. Wir haben uns viel auf Bühnen geküsst, um ein Zeichen zu setzen.

Hättet ihr euch das in Russland getraut?

Eben, ich würde es mich in der jetzigen Situation nicht trauen. Deswegen ist es schwer, mir das gerade vorzustellen. Es muss sich etwas ändern in Russland, bis wir dort spielen können. Aber wir wollen das unbedingt machen. Wenn ich das nicht mehr schaffe in meinem Leben, habe ich was falsch gemacht. Jetzt gerade sehe ich es aber einfach nicht. Vielleicht interessiert sich für uns in vier Jahren auch niemand mehr in Russland, eben weil wir nie da waren.

Hat dich die Krise also eher auf beruflicher Ebene erwischt, oder auf persönlicher?

Ich kann es nicht mehr differenzieren, denn der Großteil meines Freundeskreises habe ich durch die Arbeit kennengelernt, und sie sind alle in einer schrecklichen Situation. Der eine schämt sich zu sehr, um Hartz IV zu beantragen. Der andere tut es und hasst es. Es ist einfach schlecht. Bei mir vermischt sich das Private mit dem Beruflichen. Da geht es um die Kontakte, man sieht sich kaum noch, man hat nicht die Möglichkeit, den Leuten zu helfen. Wir haben auch schon mal drei Leute Crew mehr mit auf Tour genommen, die kriegen dann auch ihren Tagessatz, dann wird alles noch mal ein bisschen besser. Das kann man jetzt nicht mehr machen. Wo wir geben konnten in unserem inneren Kreis, da hat man uns die Möglichkeiten genommen. Wir haben ja keine Angestellten. Die Hilfen vom Staat gehen an unserer Branche vorbei. Unser Lichttechniker braucht keine 8000 Euro für Gewerbemiete. Der hat sich vor Jahren ein Pult gekauft, der zahlt keine Miete.

Es ist so schwer vorstellbar, dass die Politik das Konzept des Solo-Selbständigen oder Freiberuflers wirklich nicht versteht.

Ich habe eher das Gefühl, die Passgenauigkeit der Kulturhilfen wird extra unpassend gemacht. Es wird immer schwieriger für mich, zu glauben, dass das keine Absicht ist.

Wie groß ist denn deine persönliche Existenzangst?

Direkte Existenzangst muss ich sagen habe ich nicht, weil ich weiß, mit wie wenig ich zufrieden bin. Wie sparsam ich lebe. Und zur Not gehe ich zurück auf die Straße. Da habe ich es mir oft genug selbst bewiesen. Das mag jetzt arrogant klingen, aber ich mache 100 Euro am Tag. Deswegen habe ich keine Angst davor, mir nicht mehr zwei warme Mahlzeiten, meine Miete und ein Bier mit einem Kumpel leisten zu können. Da pushe ich die Demut in mir, indem ich mir sage, dass es vielleicht nie wieder vorkommt, dass ich vor 1000 Leuten Musik machen. Aber dass ich Musik mache, die Leute hören wollen – damit werde ich immer mein Geld verdienen. Ich habe eher die Form von Existenzangst, dass das wichtigste Element an meinem Beruf verliere. Es gibt für mich kein schöneres Gefühl, als auf der Bühne zu stehen und vor zehn oder vor 50 Menschen unsere Musik zu machen und dafür alles geben. Ich kann diese emotionale Brandstiftung betreiben. Dass es mir nicht mehr möglich ist, das auf einer Bühne zu tun, das ist die Existenzangst, die ich habe. Dass das, was ich am meisten liebe, mir nun sehr lange vorenthalten wird.

Wie sind da deine Hoffnungen für 2021?

Beim Livespielen im nächsten Jahr denke ich erstmal an draußen. Picknick-Konzerte, sowas. Wir haben uns aber noch kein Konzept überlegt. Wir wollen irgendwas machen, damit man mal wieder was erleben kann. Ein-Tages-Festivals … Hygienekonzepte sind das A und O, und nach denen richten wir das aus. Wir möchten natürlich gerne in die Clubs, weil wir denen viel zu verdanken haben. Aber das sortieren wir jetzt aus.

Foto: Olaf Heine Previous post Rea Garvey: „Unsere Aufgabe ist, Hoffnung zu schaffen“
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