„Dogs of Berlin“ – Identitätskrisen im Sumpf der Hauptstadt

„Dogs of Berlin“ – Identitätskrisen im Sumpf der Hauptstadt

„Dogs of Berlin“ ist die zweite in Deutschland produzierte Serie auf Netflix. Idee und Buch des Zehnteilers stammen von Erfolgregisseur Christian Alvart. Wir haben mit ihm und seinen Hauptdarstellern Fahri Yardim und Felix Kramer über Vorurteile und Vorbestimmung gesprochen.

Als zweite in deutscher Sprache produzierte Netflix-Serie nach „Dark“ wurde der von Christian Alvart („Tschiller: Off Duty“, „Steig! Nicht! Aus!“) erdachte, produzierte und inszenierte Zehnteiler „Dogs of Berlin“ mit Spannung erwartet und ist jetzt im Abo bei Netflix abrufbar. Clan-Kriminalität, Neonazitum, Straßenrap, Profifußball, Korruption, libanesische Drogen- und kroatische Wettmafia, Ehebetrug, Homosexualität … Thriller-Spezialist Alvart lässt wirklich nichts aus.

Am Vorabend des Länderspiels Deutschland gegen die Türkei wird in Berlin-Marzahn der türkischstämmige Top-Spieler der deutschen Nationalmannschaft tot aufgefunden. Die Suche nach dem Mörder beginnt, gerät aber bald zum Nebenschauplatz. In den Fokus rücken die Ermittler Kurt Grimmer (Felix Kramer) und Erol Birkan (Fahri Yardim), die trotz gegenseitiger Antipathie gemeinsam auf den Fall angesetzt werden. Fortan müssen sie sich im Doppelpack durch den Berliner Unterweltsumpf schlagen. Und die zwei könnten unterschiedlicher kaum sein. Der spielsüchtige Ostberliner Grimmer stammt aus einer Familie von Neonazis, Birkan ist ein homosexueller Türke mit Herz. Doch beide werden immer wieder von ihren ganz persönlichen Dämonen heimgesucht.

Alvart zeichnet ein düsteres Bild der Hauptstadt, in der es wenig Schönes zu geben scheint. Jeder betrügt jeden, keiner traut dem anderen, Gewalt und Aggression sind an der Tagesordnung. Die Grenzen zwischen Gut und Böse verwischen mehr und mehr. Das sorgt durchaus für Spannung, doch kommt Alvart um Plattitüden und Stereotype nicht herum. Oder ist auch das anders, als es scheint? n-tv.de hat mit ihm und seinen Hauptdarstellern Fahri Yardim („Jerks“, „Abgeschnitten“) und Felix Kramer („Der Zürich-Krimi“) über Identität, freien Willen und falsch interpretierte Klischees gesprochen.

n-tv.de: Herr Alvart, Idee, Buch, Regie, Produktion und B-Kamera. Bei einem 90-minütigen Spielfilm sicher gut machbar, bei einer zehnstündigen Serie aber eine ganz andere Herausforderung. Haben Sie zwischendurch schon mal Angst, Panik, Verzweiflung oder Überforderung verspürt?

Christian Alvart: Hätte ich das früher in meiner Karriere gemacht, wäre es schwierig geworden. In den letzten Jahren aber hatte ich das Glück, viele meiner Projekte umsetzen zu können. Ich habe beinahe dauerhaft am Set gestanden. Mein Team, meine Produktionsfirma, alles hat sich in der Zeit eingegroovt. Der Marathon von zehn Folgen war schon hart, das muss ich zugeben. Die einzige wirklich große Schwierigkeit bestand jedoch darin, den Überblick über die vielen Figuren nicht zu verlieren. Da musste ich auch schon mal etwas nachschlagen.

Wie fühlt es sich als Schauspieler an, wenn es vorbei ist? Fällt man in ein Loch, wenn die Figur, die einen so lange begleitet hat, mit der letzten Klappe erstmal in den Tiefschlaf versetzt wird?

Felix Kramer: Ich habe drei Tage später weiter gedreht. Mein „Loch“ startet ehrlich gesagt erst heute.

Ein Interview- und Premierentag fühlt sich für Sie wie ein freier Tag an?

Fahri Yardim: Also wenn das deine Freiheit ist, dann ein Hoch auf dein Gefängnis.

Kramer: Naja, ein bisschen frei eben. Aber ich kenne dieses Loch, in das man fällt, nur vom Theater, bin jedoch glücklicherweise niemand, dem das passiert. Ich freue mich total auf die freie Zeit.

Yardim: Geht mir genauso. Mein Loch wird gefüllt mit Dingen, nach denen ich die ganze Zeit wahnsinnige Sehnsucht hatte. Ich fülle es mit dem Gegenteil dessen, was ich die Monate davor gemacht habe, also mit Liebe, lange Schlafen, lange Kuscheln, lange Kaffee trinken, nicht so viel sabbeln. Und ich tue alles in Gemeinschaft mit liebenswerten Menschen.

Während man am Set nur mit Leuten Zeit verbringt, die man sich nicht ausgesucht hat …

Yardim: Genau. Das ist ja wie eine Zwangsehe. Diese falsche Familie wird jetzt wieder gegen die echte eingetauscht. Das tut gut.

Und obwohl man das alles vorher weiß, sagt man natürlich trotzdem nicht „Nein“, wenn eine solche Anfrage eintrudelt. Was hat Sie dazu bewogen, das Angebot anzunehmen?

Kramer: Ich bin ein großer Fan von „Antikörper“ (Thriller von Christian Alvart aus dem Jahr 2005 – Anm.d.Red.), der Film hat mich total abgeholt damals. Es liegt mir einfach sehr nah, wie Christian schreibt. Dann kam das mit Fahri dazu … Ich werde doch den Teufel tun und das nicht machen.

Nun ist Kurt Grimmer, ein verschuldeter Ex-Nazi-Kommissar mit trinkender Ehefrau und Hartz-IV-Geliebter, ein eher schwieriger Charakter, nicht auf den ersten Blick der sympathische Typ von nebenan.

Kramer: Ja, das habe ich schon öfter gehört.

Yardim: Wer will denn auch schon die sympathischen Typen spielen?

Nun, Erol Birkan ist ja eher der „Good Cop“ in diesem Spiel. Kurt Grimmer übernimmt den Gegenpart – zumindest, wenn man zur Vorbereitung auf dieses Gespräch nur vier Folgen sehen konnte.

Yardim: Mir ist der Grimmer sehr sympathisch. Diese Einschätzung von Sympathie geht von einem Maßstab aus, den ich nicht teile. Ich kann Grimmer sehr gut nachvollziehen. Die Probleme, die er hat, treiben ihn vor sich her, und er muss damit umgehen. Ehrlicherweise ist er mir in dieser Not, in der er improvisieren muss, näher, als die Aufrichtigkeit in einer kantenlosen Umgebung.

Kramer: Danke Fahri, dass du das so unterstützt, denn ich verstehe das mit der Antipathie auch nicht immer so richtig. Ich glaube, wir machen es uns zu leicht, weil er ein Ex-Nazi ist. Der Paradigmenwechsel, den er vollzieht, ist mir aber doch sympathisch. Er versucht, den Familienkreis, aus dem er kommt, zu durchbrechen. Wenn ich Ingo Hasselbach (Deutschlands bekanntester Aussteiger aus der Neonazi-Szene – Anm.d.Red.) heute treffe und mich mit ihm unterhalte, ist auch er mir sehr sympathisch. Nicht, was er früher getan hat, aber das, was er daraus gemacht hat. Im Laufe der Serie passiert dagegen bei Erol Birkan noch so einiges, was bei ihm allerdings einfach anders wirkt – ohne spoilern zu wollen.

Yardim: Der Typ ist viel unaufgeräumter als Grimmer. Die Fassade bröckelt.

Herr Alvart, „Dogs of Berlin“ behandelt Themen wie Clan-Kriminalität, Profifußball, Wettmafia und Neonazis. Wie tiefgreifend haben Sie für die einzelnen Erzählstränge recherchiert?

Alvart: Bei acht Folgen gab es jeweils einen anderen Co-Autor. Wir haben uns immer wieder aber auch im Team zusammengesetzt und die Rechercheaufgaben verteilt. Wir trafen uns zum Beispiel mit Klatschreportern, um heraus zu finden, was sie über Fußballstars schreiben dürfen und was besser nicht. Durch meine vorherigen Filme, die meist im Kriminalmilieu spielen, habe ich ohnehin gute Kontakte zur Polizei. Und um bei den Nazis zu recherchieren, muss man nur in einem der entsprechenden Foren lesen. Die verstecken sich ja nicht mehr.

Die Nazis, darunter Kurt Grimmers Bruder, sind grobschlächtige Typen mit Seitenscheitel oder Glatze, in Springerstiefeln und mit Bomberjacken, die gerne mal „Türken klatschen“. Bedient das nicht ein ziemliches Klischee?

Alvart: Klar gibt es heute auch viele, die es cleverer anstellen, aber man sollte nicht verkennen, dass es auch diese gewaltbereiten Neonazis noch immer gibt. Schauen Sie sich nur mal auf Rechtsrockkonzerten um.

In einigen ersten Kritiken vor Staffelstart mussten Sie sich aber auch in anderen Punkten den Vorwurf gefallen lassen, zu viel mit Stereotypen zu arbeiten … wenngleich auch diese Kollegen vermutlich nur die ersten vier Folgen sehen durften.

Alvart: Ich habe das natürlich auch gelesen. Aber das Thema von „Dogs of Berlin“ ist eigentlich ein ganz anderes, nämlich unsere kulturelle Debatte über Identität. Es geht um die Frage: Was macht uns aus? Sämtliche Rechts/Links-Debatten entzünden sich gerade an dem Thema. Es geht um Herkunft, Geschlecht, um Macht, Zugehörigkeitsgefühl und Teilnahme an der Gesellschaft. Die Figuren sind Vertreter einzelner Aspekte des Überthemas Identität. Und der Frage nach dem freien Willen. Wir haben uns unsere Identität ja nicht ausgesucht. Wie viel an unserem angeblich freien Willen ist am Ende Einbildung, weil womöglich auch unsere Entscheidungen nur eine Summe dessen sind, was uns bis dahin mitgegeben wurde?!

Yardim: Was man bei „Dogs of Berlin“ vorgesetzt bekommt, ist vordergründig mit wahnsinnig vielen Vorurteilen besetzt. Aber wir lernen, dass dahinter ein Mensch steckt mit unfassbar vielen Anteilen, die ihn ausmachen. Und diese Anteile gehen weit über das hinaus, was wir sehen. Schwul zu sein ist ja keine Identität, das ist eine sexuelle Orientierung, und die kann sich in unterschiedlichsten Facetten zeigen. Das erzählt aber noch nichts. Was Erol viel mehr ausmacht als seine Homosexualität, ist der Konflikt mit seinem Vater, der ihn deswegen ablehnt. Erol ist in einen gewalttätigen Stadtteil hineingeboren worden, für den er selbst viel zu weich war. All die Demütigungen versucht er nun als Polizist auszugleichen, indem er sich Macht zurückholt, woran er scheitert. Das fand ich spannend, um die vorhin gestellte Frage nach meiner Motivation noch zu beantworten.

Kramer: Und so eine Figur mit Fahri zu besetzen, ist der Knüller. Er, der der absolute Liebling aller ist, mit dem man sich freundschaftlich dieses und jenes vorstellen kann. Und jetzt gibst du ihm einen Mantel, bei dem die Homophoben erstmal irritiert sind. Der Riss, der dadurch entsteht, ist spannend.

Yardim: Sie versucht alles, was nach Eindeutigkeit verlangt, einem Grundbedürfnis des Menschseins, aufzubrechen. Während wir noch auf der Suche nach Orientierungshilfen sind, werden die Karten wieder neu gemischt. Und das macht die Serie aus, das bringt die überraschenden Wendungen. Gut und Böse im klassischen Sinn lösen sich auf.

Fahri Yardim, Felix Kramer, Anna Maria Mühe, Katharina Schüttler, Katrin Sass, Jasna Fritzi Bauer … wie viel Mitspracherecht räumt sich Netflix bei der Auswahl der Besetzung ein?

Alvart: Die Hauptrollen sind im Konsens mit Netflix besetzt worden. Wenn die Verantwortlichen dort mit ihrer Erfahrung meine Entscheidung mittragen und daran glauben, dass ein Schauspieler auch international funktioniert, ist das gut. Es ist aber kein einziger Kompromiss meinerseits dabei, ich bin mit allen Hauptrollen extrem glücklich. Den Rest durfte ich ohnehin völlig frei selbst besetzen.

Sie und Herr Kramer sind heute Morgen erst aus der Ukraine hergeflogen. Dort drehen Sie gerade den nächsten Film, der voraussichtlich im Oktober 2019 in die Kinos kommt. Worum geht es dieses Mal?

Alvart: Die Geschichte spielt 1992 in Mecklenburg-Vorpommern, in einer Gegend, in der Mädchen verschwinden. Ein ostdeutscher und ein westdeutscher Polizist versuchen, das Mysterium zu klären. Einer von ihnen ist Felix, der für die Rolle einiges an Gewicht zulegen musste.

Kramer: Ja, gucken Sie mich an. Aber es sind nur noch drei Drehtage, dann gehe ich das an. Ich freue mich drauf, keine Cola mehr trinken zu müssen.

„Dogs of Berlin“ ist seit 7. Dezember 2018 bei Netflix abrufbar.

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