Ein Herz für den Herbst

Ein Herz für den Herbst

Das ist er, der Herbst. Er ist der Grund, aus dem die Übergangsjacke erfunden wurde – woran allerdings auch der Frühling eine Mitschuld trägt. Funktionskleidung hingegen geht wohl allein auf sein Konto, was man ihm durchaus übel nehmen darf. So richtig ernst genommen wird der Herbst als vollwertige Jahreszeit allerdings nicht. Er ist für viele nicht mehr als die Brücke von Sommer zu Winter, den beiden Extremen im Kalender. Zum Schwimmen im Badesee ist es schon zu kalt, zum Skifahren in den Bergen noch zu warm, eine eigene Sportart hat er nicht. Während der Frühling nach den eisigen Monaten des Winters, durch die man sich in kratzende Strickwaren gehüllt kämpfte, mit offenen Armen empfangen wird, hat es der Herbst schwer. Die Tage werden kürzer, die Temperaturen sinken und die wöchentlichen Sonnenstunden kann man oft an einer Hand abzählen. Das durch UVB-Mangel hervorgerufene Vitamin D-Defizit kann dann meist nur mit viel Alkohol wieder ausgeglichen werden. Nicht ungefährlich …

Ich selbst halte den Herbst allerdings für die schönste Zeit des Jahres, was nicht allein daran liegt, dass ich weder gern schwimme, noch Skifahren kann. Wenn sich die Tage frohen Mutes aus dem tristen Morgennebel erheben und die tapfere Sonne sich sanft auf das golden verfärbte Blattwerk legt … Stopp! Ehe ich mich jetzt im Kitsch verliere, möchte ich doch lieber auf die echten Vorteile des Herbstes hinweisen und so einen Lanze für ihn brechen. Man bedenke nur die ausbleibende Schweißattacken bei jeder noch so kleinen Bewegung, wie wir sie noch gut aus dem außergewöhnlich warmen Sommer in Erinnerung haben. Gerade für Menschen, die Kleidung aus Polyester und Viskose bevorzugen, bzw. für all jene, die mit diesen Menschen in engem Kontakt stehen, dürfte das eine ziemliche Verbesserung ihrer Lebensumstände bedeuten.

Auch dass der Trend im Herbst weg von Bauch-, Arsch- und Beinfreiheit hin zu Strick, Schal und Strumpf geht, ist in vielen Fällen einen Applaus wert. Denn nicht immer sind sie hübsch anzusehen, die jungen wie alten Dinger mit kaum mehr Klamotten am Leib als Martin Semmelrogge unter der „Promi Big Brother“-Dusche. Auch bin ich mir sicher, dass die gedeckten Farben des Modeherbstes – ich denke da an Bordeaux, Dunkelgrün, Dunkelblau, Braun und Grau – manch einem um einiges besser zu Gesicht stehen, als die Trendfarben des vergangenen Sommers, die da hießen: Neongelb, Neonpink, Neongrün und Neonneon.

Der Herbst bringt zudem endlich wieder mehr Abwechslung in die sozialen Netzwerke, denn vorbei ist die Zeit im Minutentakt geposteter Fotos aus dem Urlaub, die die immer gleichen Motive zeigen: Füße im Sand, Füße im Meer, Füße in Flip Flops, Füße im Sonnenuntergang … Wer will das sehen? Wie viele Podophile (Podopholie = Fußfetischismus) haben diese Leute wohl in ihrem Facebook-Bekanntenkreis? Bekommen sie auf diese Bilder tatsächlich immer wieder eine positive Resonanz? Mir macht das Angst.

Und ist das Abgrillen 2013 erst mal erledigt, pausiert auch das Hochladen jeder beliebigen Grillsession bis zum Angrillen 2014. Eine Erleichterung. Zumal ich ohnehin finde, dass es dringend eines speziellen Dienstes für Essenspostings bedarf, denn auf meiner Pinnwand haben diese nichts verloren. Sterbenslangweilig. Ist Instagram das Twitter für Analphabeten (Vorsicht bei der Betonung!), könnte doch so etwas Kulinagram das Instagram für Vielfraße werden. Doch halt, so einfach ist das nicht. Hier kommt man heutzutage um klare Unterscheidungen nicht herum und muss schon eine App für Veganer (Veganigram), eine für Vegetarier (Vegarigram), eine für Fleisch- (Carnivogram) und eine für Allesfresser (Omnivogram) programmieren. Und auf keinen Fall darf Veganigram auf einer Seite mit Canivogram im App Store auftauchen, würde das doch jedem Veganer mächtig sauer aufstoßen. Memo an mich: Viel zu kompliziert …

Schlussendlich aber scheint mein Blick auf den Herbst doch ein wenig unrealistisch romantisch, denn meist zeigt er sich von seiner weniger hübschen Seite. So bringt er Wochen voller Regen, Dreck, Schnupfen, einem deprimierenden Grauschleier und – gerade im November – einer überproportional ansteigenden Selbstmordrate. Er kann eben ein echtes Arschloch sein und dir übel mitspielen – wie die Babs dem Boris damals auf der Terrasse ihres Hauses auf Fisher Island. Doch auch in diesem Fall ist der Herbst meine Lieblingsjahreszeit, denn nichts, aber auch gar nichts, kann mich an so einem typischen Herbstsonntag vom heimischen Sofa bewegen. Dann lade ich mich selbst zum TV-Serien-Marathon bei Lebkuchenherzen, Spekulatius und Rotwein ein. Und das in diesen Momenten ausbleibende schlechte Gewissen ist der eigentliche Grund, warum ich ein solch großes Herz für den Herbst habe.

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