Oliver Masucci: „Für das Böse reicht ein Prozent der Entgleisung“

Oliver Masucci: „Für das Böse reicht ein Prozent der Entgleisung“

Im Sechsteiler „Gefesselt“ spielt Oliver Masucci einen sadistischen Kürschnermeister. Im Interview mit ntv.de verrät er, was ihn an der wahren Geschichte des „Säurefassmörders“ so fasziniert, was diese True-Crime-Serie von anderen abhebt und warum gute Produktionen aus Deutschland selten sind.

Seit der einstige Theaterschauspieler Oliver Masucci vor rund zehn Jahren seine Filmkarriere begann, hat er sich zu einem der wichtigsten und vielschichtigsten Schauspieler Deutschlands hochgearbeitet. Inzwischen ist er in gefeierten Serien und preisgekrönten Filmen sowie auch zahlreichen internationalen Produktionen zu sehen.

Nach seiner Darstellung des Rainer Werner Fassbinder in Oskar Roehlers „Enfant Terrible“ und der des Dr. Josef Bartok in der Stefan-Zweig-Verfilmung „Schachnovelle“ hat Masucci in der nun bei Prime Video startenden True-Crime-Serie „Gefesselt“ die Rolle des real existierenden „Säurefassmörders“ übernommen. Was ihn an der Figur des Raik Doormann sowie dessen Vorlage Lutz Reinstrom gereizt hat, welche Rolle dabei Regisseur Florian Schwarz innehatte und warum wirklich gute Produktionen aus Deutschland seiner Meinung nach eher selten sind, hat der 54-Jährige ntv.de im Interview erzählt.https://www.youtube-nocookie.com/embed/oKtzS0nTKCE?rel=0&showinfo=0

ntv.de: Herr Masucci, True-Crime-Serien sind gerade schwer gefragt. Haben Sie sich vor „Gefesselt“ auch schon für das Thema interessiert?

Oliver Masucci: Manchmal häufen sich Dinge, passieren gleichzeitig. Dann verschiebt sich der Fokus, und auf einmal denkt man, etwas Bestimmtes komme besonders häufig vor. Wir wollten eigentlich schon früher mit der Serie rauskommen, dann war „Dahmer“ und Co. plötzlich da. Wir haben das Ganze schon vorletztes Jahr im Dezember abgedreht. Ich weiß noch genau, wie ich gefroren hab, als wir die Gefängnis und Bunker-Szenen gedreht haben. Nackig in der Zelle in Leipzig und es war abartig kalt. Die Pandemie in der Hochphase. Weihnachtsmarkt geschlossen. Kein Glühwein zum Wärmen draußen. In Restaurants saß man alleine, weil nur Businesskunden reindurften. (lacht) Jedenfalls gab es True Crime im Grunde doch schon immer. Diese Geschichten, die die Menschen faszinieren, weil es um echte Abgründe und womöglich auch ein bisschen um das Böse in einem selbst geht.

Laut Psychologie geht es beim Schauen oder auch Lesen von Krimis um das Verspüren einer Angst ohne Risiko, aber auch um die Überführung des Täters, sodass am Ende das Gute siegt.

Ich mag es, wenn die Dinge nicht so eindeutig sind, und fand die Serien in den 80ern und 90ern furchtbar, die nach 40 Minuten damit endeten, dass der Täter feststand und überführt wurde. Ich finde Ambivalenz interessant. Beim Säurefassmörder, der bei uns Raik Doormann heißt, besteht sie darin, dass er als netter, unterhaltsamer Mensch mit großem bürgerlichen Bekanntenkreis beschrieben wurde. Schatzsucher. Pelzhändler. Sehnsuchtsort Costa Rica. Die Morde hat er nie zugegeben. Die Beweislage sah das anders. Er bekam die schärfste Strafe, die in Deutschland möglich ist. 25 Jahre mit besonderer Schwere der Schuld und anschließender Sicherungsverwahrung. In der befindet er sich aktuell mit 74. Die Strafe hat er abgesessen. Die Richter befürchten Wiederholungsgefahr. Vorletztes Jahr hatte er Ausbruchspläne.

Eigentlich unvorstellbar, dass er bis heute die Taten so nicht zugegeben hat …

Was im Bunker wirklich geschehen ist, bleibt Spekulation. Lutz Reinstrom hat immer behauptet, die Tode seien Unfälle gewesen. Seine Aussagen hat er dem jeweiligem Ermittlungsstand angepasst und die ungeheuerlichsten Geschichten erzählt. Es würde in den Medien vollkommen falsch dargestellt. Er hätte die Leichen ja nur in Säure entsorgt und nicht getötet. Fest steht, er hat sie zersägt und zerstückelt. Dafür erfand er absurde Gründe bis hin zur südamerikanischen Organmafia. Wir spielen im Film mit der Realität und den Perspektiven, denn er glaubt sich das ja wahrscheinlich selbst, um sich nicht als Monster sehen zu müssen. Wir haben die Geschichte etwas fiktionalisiert.

Was war es, das Sie dazu bewogen hat, ein Monster wie Lutz Reinstrom alias Raik Dorrmann zu spielen? Bei vorherigen Projekten war es immer auch der Regisseur, der Einfluss auf Ihre Entscheidung hatte …

Ja, absolut. Florian Schwarz ist ein einzigartig talentierter deutscher Regisseur. Er erzählt nicht linear. Er hat „Pulp Fiction“ nicht vergessen, wie so viele andere. Das Monster gibt es nur ganz selten. Mehr die bürgerliche Fassade und den Abenteurer. Er ist ein großer Geschichtenerzähler. Interessiert sich für Abgründe, ohne sie zu bewerten. Hat keine Angst sie zu beleuchten und hinabzusteigen. Er verschont uns mit küchenpsychologischen Begründungen. Er erklärt nicht, sondern erzählt, beschreibt, verführt. Er traut den Zuschauern einen Intellekt zu. Er überrascht sie immer wieder, und er kann etwas sehr Seltenes im deutschen Film, nämlich Tempo. Er erfindet einen eigenen Filmkosmos. Arbeitet intuitiv. Reichert die Geschichte immer weiter an. Macht sie schillernder. Zitiert verschiedene Filmsprachen aus der Kiste des Kinos. Zeigt die Banalität des Bösen, die bürgerliche Fassade, den Reiz des Abenteurers und Verführers. Die Absurdität, die Komik und das Normale des Abgrunds.

Das Absurde an diesem Fall ist vor allem, dass niemand aus dem Umfeld Lutz Reinstrom etwas Derartiges zugetraut hätte.

Die Leute haben in Reinstrom vordergründig nie das Böse erkannt. Er war der nette unterhaltsame Nachbar. Florian Schwarz ist einer der intelligentesten und unerschrockensten Regisseure, die wir zur Zeit haben. Er ist der, der wenn die Horde ums Feuer sitzt, aufsteht und die Horde vergessen macht, dass sie ums Feuer sitzt, indem er ihr eine fantastische Geschichte erzählt. Er würde jetzt hier aufstehen und drei Stunden reden.

Das Gefühl des „Gefesselt“-Zuschauers dem Mörder gegenüber ist tatsächlich lange ambivalent.

Ich habe viele Leute getroffen, die ihn kannten und die ihn als durchaus empathischen Menschen beschrieben haben. Die haben mir unglaubliche Geschichten über ihn erzählt, und was für ein Aufschneider er war. Als der Pelzhandel in den 80er-Jahren dann plötzlich den Bach runterging und er sein Geschäft verlor. Er war Hausmann in einer spießigen Reihenhaussiedlung und hat sich unter dem Haus den ersten Atombunker gebaut, den Hamburgs Bürgermeister eingeweiht hat. Und dort hat er dann seine Spielchen getrieben.

Sogar beim Prozess haben noch Frauen für ihn ausgesagt.

Ja, er war jemand, der Leute in seinen Bann zog, die ihn dann wirklich mochten. Die Nachbarn haben den Reportern gesagt, dass sie all das niemals von ihm gedacht hätten, er hatte doch immer gegrillt und man hatte Bier zusammen getrunken. Das hat mich interessiert. Ich wollte nicht etwas rein Böses spielen. Ich mochte Mads Mikkelsens „Hannibal“-Geschichte und dachte, ich könnte etwas ähnliches daraus machen. Eine Figur kreieren, die uns immer wieder verführt. Beim Hamburger Filmfest haben wir dann gesehen, dass das Publikum zum Teil immer wieder mit ihm mitgegangen ist und gelacht hat und sich dann im nächsten Moment die Augen zuhielt und betroffen war über die eigene Emotion.

Es ist nicht einfach, zuzugeben, für einen Mörder und Sadisten wie ihn Sympathien zu entwickeln. Das kann einen eben auch schon mal unangenehm berühren und über sich selbst nachdenken lassen …

Vor allem dann, wenn das erste Mal Nela Langenbeck, die erste Kommissarin der Hamburger Mordkommission, im Gericht auftritt, die in dieser von Männern dominierten Welt der 80er und 90er, ständig Zeichen kriegt, mal Kaffee zu machen oder Brötchen zu schmieren. Sie sagt: „Ich finde, der Darstellung des Täters wird hier viel zu viel Raum gegeben.“ Und genau dann dreht die Geschichte die Perspektive und zeigt den Weg dieser Frau, wie sich sich festbeißt an der Geschichte und forscht, nicht lockerlässt, und wie stark die Widerstände sind, die sie überwinden muss. Denn das ist genau das, was passierte. Einer Frau traute man keine investigative Arbeit zu. Es gab den Fall ja gar noch gar nicht. Es gab noch keine Morde. Auch die Frau, das Opfer, das die Hölle überlebt hatte im ersten Prozess, wurde nicht ernst genommen, aber unser Lutz Reinstrom alias Raik Doormann schon, denn der konnte so schöne Geschichten erzählen. Während sich die Leichenteile schon, vergraben in den Säurefässern, langsam zersetzten.

Wobei man bei diesem Fall wie erwähnt nicht genau weiß, was wahr und was falsch ist …

Es war keiner dabei , wenn er mit seinen Opfern alleine war. Und sie können uns keine Auskunft mehr geben, weil sie tot sind. Daher bewegt man sich auch hier beim True Crime im hochspekulativen Bereich. Das sollte man auch so sagen. Im Bunker wurden tagelange Partys gefeiert, wenn die Frau mit Kind im Urlaub war. Er wurde zum SM benutzt. Da haben Menschen mitgefeiert, haben den Abgrund in ihm wohl nicht gesehen. Es gab Beziehungen zur Polizei. Es gibt Berichte aus Costa Rica, wo es darum geht, eine wohlhabende deutsche Freundin zu benutzen und zu ermorden. Der Innenminister Costa Ricas soll ihn im Gefängnis besucht haben. Es gibt das Gedächnisprotokoll eines Mithäftlings, dem er detailliert beschrieben haben soll, was er mit seinen Opfern alles angestellt hat. Bei uns wird auch ein Bekannter im Bunker festgehalten. Der hat aber seltsamerweise nicht ausgesagt. Vielleicht weil er ihm selber sexuell zum Opfer fiel und sich geschämt hat. Er hat seine Opfer am hellichten Tag entführt, in sein Reihenhaus in Rahlstedt. Von allen Seiten einsichtig. Wie hat er das gemacht? Im Garten Löcher gegraben unter den Augen der Nachbarn. Säurefässer dort versenkt. Nicht nur eins. Mehrere. Sozusagen auf Vorrat. Für die Bekannten, die Nachbarn war er ein normaler Mensch. Mit Atombunker halt.

Könnte das Böse also in deutlich mehr Menschen stecken, als wir ahnen?

Es reicht ein Prozent der Entgleisung, der Abweichung von der Normalität. Aber mit 99 Prozent kann er vollkommen alltagstauglich sein, ein Familienvater, ein normales Leben führen. Und das ist doch der Grusel, dass wir womöglich alle an diesem Abgrund entlanghangeln. Da ist diese Boshaftigkeit in ihm, und dagegen anzuspielen, das war es, was mich interessiert hat. Das unterscheidet die Figur zum Beispiel von Jeffrey Dahmer. Da schaut man einfach einem bösen Psychopathen dabei zu, wie er immer noch Böseres tut. Raik Doormann ist der nette, hilfsbereite Psychopath von nebenan, den man aber nicht erkennt als solchen.

Wie haben Sie sich dieser speziellen Persönlichkeit für Ihre Arbeit genähert?

Sogar während der Dreharbeiten kamen immer wieder Dinge dazu. Meine Mutter hat zum Beispiel einen Freund, der hatte die Drogerie neben dem Geschäft von Reinstrom. Die waren immer zusammen Kaffee trinken am Nachmittag. Der hat zum Beispiel erzählt, dass Reinstrom immer gefroren hat, ihm immer kalt war. Deswegen stand er auch mit Pelz, hochgeschlagenem Kragen und Pelzmütze in seinem Pelzladen, eine ungewöhnliche und politsch schön inkorrekte Ästhetik. Ich habe unter anderem auch mit dem damals zuständigen Kommissar gesprochen, und Reinstrom hat in den Vernehmungen und im Prozess immer Geschichten erzählt und eine Show abgezogen, glaubte sich das aber alles vermutlich auch selbst.

Heute ist er 74 Jahre alt und sitzt noch immer im Gefängnis …

Der war sogar mal Gefangenensprecher, das muss man sich mal vorstellen. Er hat sich immer über die Haftbedingungen beschwert. Auch da habe ich Leute getroffen. Die haben mir erzählt, dass er mal für den Müll zuständig war. Wenn er den rausgebracht hat, haben ihm die Wärter hinterhergerufen: „Mit Tonnen kennst du dich ja aus.“ Auch im Knast war er wohl ein großer Geschichtenerzähler. Er hat eine hohe kriminelle Energie. Er hat mal seinen Nachbarn überfallen, und als die Polizei kam, hat er gesagt, ihm sei das auch passiert. Wir hätten noch zehn weitere Teile mit solchen Geschichten machten können, weil das eine unglaubliche kriminelle Dimension hat.

Wie empfinden Sie selbst einer solchen Figur gegenüber? Dürfen oder müssen Sie sie sogar mögen?

Ich muss die Figur überhaupt nicht mögen, aber mir muss einfach das Spiel trotzdem Freude machen. Ich mache das auch, um mich zu verwandeln, um aus einer anderen Perspektive auf die Welt zu schauen. Hier ging es vor allem ums Täuschen, ums Verführen und Kaschieren. Nicht ums Zersägen und Foltern. Das gibt es auch. Aber das Interessante ist die Banalität davor. Man steht im Keller und sucht was, im Hintergrund hängt etwas, dem keine Beachtung zuteil wird. Ich habe eigentlich bei jeder Rolle den Moment, in dem ich in einen Tunnel gehe und mich mit dieser einen Sache beschäftige. Es ist ein bisschen so, als wenn man sich einen Gebrauchtwagen kaufen möchte. Ab diesem Moment sieht man plötzlich nur noch dieses Auto durch die Stadt fahren. Das ist selektive Wahrnehmung, weil man darauf fokussiert ist. Und das passiert auch, wenn ich mich mit einer Rolle beschäftige. Mein Gebrauchtwagen war Reinstrom.

Für Raik Doormann haben Sie nicht nur Ihren Habitus, sondern auch Ihren Sprachduktus verändert…

Ich hatte eine Tonaufnahme aus dem Gefängnis, die abgefangen wurde, mit sehr starkem nordeutschem Dialekt, und das passte. Da ich ja lange in Hamburg gelebt und gespielt habe, hab ich den Klang gut im Ohr. Ich habe dann meine Version davon gemacht. Herangezogen und weggerückt gleichermaßen – man hat immer etwas zum Spielen. Sofort entsteht eine extreme Figur. Das macht es leichter. Und spielen muss einem immer leicht fallen. Dann ist es gut.

Wie anstrengend ist so etwas aber körperlich? Ich erinnere mich an die „Schachnovelle“ oder „Enfant Terrible“, in dem Sie Fassbinder gespielt haben. Alles sehr fordernde Rollen. Oder war es bei „Gefesselt“ eher die lange Drehzeit? Sind Sie dann komplett aus allem raus?

Ja, ich bin immer raus, wenn ich drehe. Ich kann das nicht anders. Ich kann den Beruf nur so machen. Das ist aber nicht das Anstrengende. Die Produktionsbedingungen sind das Anstrengende, weil wir in Deutschland immer, immer und immer mit zu wenig Geld produzieren. Auch ist diese Serie kein Amazon Original, sondern eine Lizenzproduktion. Also letztendlich ganz günstig eingekauft. Sonst wäre vielleicht ein wenig mehr Budget dagewesen. Am Ende hat man immer ein paar Millionen zu wenig und macht Überstunden, um dem eigenen Anspruch gerecht zu werden und gleichzeitig den viel zu vollgestopften Drehplan zu erfüllen. Es gibt eine aufwendige Fantasie-Sexszene mit Spezial-Maske. Allein für das Auftragen braucht man vier Stunden, dann nochmal zwei, um es wieder abzubekommen, und eine, um jeweils zum Set und wieder nach Hause zu kommen. Und dazwischen sind dann noch zwölf Stunden Dreh. Nackt im Garten bei fünf Grad Kühlschranktemperatur ohne Wärmepilz. Set nicht abgehangen, und der Nachbar schaut zu. Ohne Intimacy Coordinator. Nach dem muss man schreien. Na Dankeschön.

Und all das ist in anderen Ländern anders?

Im Ausland gibt es sogar immer Trainer, die einen körperlich fit halten, damit man das durchsteht, wenn man das ganze Jahr dreht. Jeden Tag Training. Das steht da auch auf dem Drehplan. Hab ich bei uns noch nie gesehen. Letztens sagte eine meiner Agentinnen : „Ja klar, aber das ist auch was anderes im Ausland.“ Warum, frag ich mich? Sind da die Schauspieler mehr wert als bei uns? Manchmal fühlt man sich wie durchgefickt und liegengelassen. Qualität hat immer ihren Preis. Will ihn der Sender nicht bezahlen, zahlen wir ihn. Und meist will der Sender nicht. Darum sind deutsche Serien meist so, wie sie eben sind. Es heißt dann oft, für die Zuschauer reichts ja. Uns reicht das aber nicht. Wir wollen bessere Serien machen.

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