Sternstunden: Das Jahr 1984

Sternstunden: Das Jahr 1984

Es ist das Jahr, das schon 1949 dank George Orwells gleichnamiger Dystopie zu vorzeitigem Ruhm gelangte. Das in diesem Roman gezeichnete Bild des totalitären Überwachungs- und Präventionsstaats gibt es dann allerdings und gottlob in dieser Form nicht.

Stattdessen wird Richard Weizsäcker Bundespräsident, Apple führt den Macintosh ein, Ronald Reagan gewinnt zum zweiten Mal die US-Präsidentschaftswahlen, in Deutschland startet das private Kabelfernsehen, der VfB Stuttgart wird Deutscher Fußballmeister, das Space Shuttle Discovery bricht zu seinem Jungfernflug auf und „Live Is Life“von Opus erscheint, wird im Folge zur meistverkauften Single gekürt und ist leider bis heute ein echt nerviger Ohrwurm. Bon Jovi, Modern Talking und New Kids On The Block werden gegründet, und in Seattle firmiert sich eine Band namens Soundgarden. Grunge ist 1984 allerdings noch kein Thema, vielmehr sind es Synthie Pop und Neue Deutsche Welle, die die Charts bestimmen. Und so bewegt sich die Auswahl der spannendsten Alben des Jahres in ganz ähnlichen Gefilden.

Depeche Mode – Some Great Reward
„Some Great Reward“ ist das vierte Album von Dave Gahan, Martin L. Gore, Andy Fletcher und dem inzwischen seit 1995 abtrünnigen Alan Wilder. Mit den Singleauskopplungen „Master And Servant“, „People Are People“ und „Blasphemous Rumours/Somebody“ ist „Some Great Reward“ hierzulande äußerst erfolgreich und landet auf Platz 3 der Media Control Album Charts. „Somebody“ ist sicherlich eine der schönsten Balladen dieser Zeit, intoniert vom ersten Songwriter der Band, Martin L. Gore, und nicht wie sonst üblich von Frontman Gahan. Die Nummer erscheint als zweites Stück der Doppelsingle „Blasphemous Rumours“ und ist damit der erste von Gore gesungene Singletrack überhaupt. Mit „People Are People“ gelingt dem britischen Quartett der internationale Durchbruch, die Nummer kann sich auf Platz 13 der US-amerikanischen Billboard Charts platzieren. Die anderen beiden Singles hingegen werden von vielen Stationen in Übersee aufgrund ihrer in US-Ohren anstößigen Texte ignoriert.

Human League – Hysteria
Auch Human League veröffentlichen 1984 ihr viertes Album, das allerdings wesentlich weniger Erfolge verzeichnen kann als das der Kollegen von Depeche Mode oder der eigene, 1981 erschienene Vorgänger „Dare!“. Konnte sich dieses bei uns noch auf Platz 19 der Albumcharts platzieren, reicht es bei „Hysteria“ gerade einmal für Rang 44. Es ist zum einen sicher der Erfolgsdruck, der Phil Oakey, Joanne Catherall und Susan Ann Sulley die Produktion erschwert, aber auch der Umstand, dass zwei der Produzenten das Projekt noch während der Aufnahmen verlassen. All das spiegelt sich im gewählten Titel „Hysteria“ wieder. Zwar gehen die drei Singleauskopplungen zumindest in UK in die Top 20, doch nur „The Lebanon“ schafft es, sich teils auch international durchzusetzen. Waren The Human League zuvor noch als die Heroen des New Wave gefeiert, kann der eher ruhige Sound dieses Longplayers, der dem aktuellen Trend entgegenläuft, seinerzeit nicht so recht überzeugen. Und dennoch ist „Hysteria“ ein durchaus hörenswertes Album des bis heute agierenden Dreiergespanns.

Heaven 17 – How Men Are
Erst im Jahr zuvor war mit „The Luxury Gap“ das zweite und erfolgreichste Album des Trios um Sänger Glenn Gregory erschienen, das mit dem großartigen „Temptation“ und der Ballade „Come Live With Me“ die wohl bis heute bekanntesten Songs Heaven 17s beinhaltet. Auch „How Men Are“ hat dann mit „Let Me Go“, „This Is Mine“ und „Sunset Now“ drei Singlerfolge zu verbuchen, während sich das Album selbst in Deutschland auf Platz 31 wiederfindet. Immerhin, denn mit den darauf folgenden Longplayern geht es für Heaven 17 immer weiter bergab, bis sich die Band 1988 dann erst mal auflöst. 1996 werden Wiedervereinigung und ein sechstes Album gefeiert. An die alten Erfolge kann die Band aus dem britischen Sheffield allerdings nie anknüpfen. Das vorerst letzte Album erscheint 2005, dennoch gehen Glenn Gregory & Co. im Dezember 2012 wieder auf Deutschlandtour.

Eurythmics – 1984 (For The Love Of Big Brother)
Pünktlich zum Orwell-Jahr wird „1984“ von Regisseur Michael Radford verfilmt, u.a. mit Richard Burton, der damit seinen letzten Film abliefert, ehe er am 5. August 1984 verstirbt. Mit dem Soundtrack dazu werden Annie Lennox und David A. Stewart beauftragt, die ihren Prinzipien folgend zunächst absagen, sich dann aber dennoch bequatschen lassen. Das Werk entsteht dann in gerade einmal 20 Tagen in Nassau auf den Bahamas. Inspiriert durch Orwells Texte schreiben sie die Lyrics, die Lennox einsingt – teils in der vom Autor kreierten Sprache Neusprech. Die Single „Sexcrime (Nineteen Eighty-Four)“ avanciert schnell zum Hit und erreicht in Deutschland Platz 3 der Charts. Hinsichtlich der Verwendung der Musik im Film aber gibt es so einige Probleme, denn parallel ist auch noch ein klassischer Score in Auftrag gegeben worden, der eher des Regisseurs Zustimmung findet. Nach zahlreichen Streitereien und Anfeindung aller Beteiligten erscheinen am Ende eine Kinofassung mit der Musik der Eurythmics und ein Director’s Cut mit den orchestralen Klängen von Komponist Dominic Muldowney. Und so wird „1984 (For The Love Of Big Brother)“ als ganz normales Studioalbum und eben nicht als offizieller Soundtrack verkauft.

Nena – ? (Fragezeichen)
In gewisser Weise ist „? (Fragezeichen)“ auch Nenas viertes Album. Irgendwie zumindest, denn am gleichen Tag, dem 27. Januar 1984, erscheint nach dem 1980er Debüt „The Stripes“ – damals noch unter selbigem Bandnamen – und dem 1983 releasten „Nena“ der teils englischsprachige und für den internationalen Markt produzierte Longplayer „99 Luftballons“. „? (Fragezeichen)“ ist hingegen wieder an den deutschsprachigen Fan adressiert und wird von ihm mit offenen Armen und Ohren empfangen – sowohl in Deutschland, als auch in Österreich und der Schweiz belegt die 12 Songs umspannende LP Spitzenpositionen. Als erste Single wird der Titelsong ausgewählt, der ebenso große Erfolge wie sein großer Bruder verzeichnen kann. Die darauf folgende Singles „Rette mich“ und „Lass mich dein Pirat sein“ verlaufen im direkten Vergleich dazu dann allerdings eher im Sande. Dennoch ist „? (Fragezeichen)“ mit weiteren Balladen wie „Ich häng an dir“, „Es regnet“ und „Der Anfang vom Ende“, aber auch dem zackigen 15-Sekünder „Der Bus ist schon weg“ ein absoluter Klassiker der NDW-Geschichte.

Falco – Junge Römer
War er auch Österreicher, verkörpert kaum ein anderer die Neue Deutsche Welle besser als er. Der 1998 viel zu früh und absolut tragisch bei einem Unfall in der Dominikanischen Republik ums Leben gekommene Johann „Hans“ Hölzel ist eine Art Gallionsfigur dieser musikalischen Bewegung, die sich mit mal mehr mal weniger klugen deutschen Texten Gehör verschafft. 1982 veröffentlicht er mit „Einzelhaft“ sein Debüt als Falco und landet mit „Der Kommissar“ einen riesigen Hit. Dem folgt dann 1984 das zweite Album „Junge Römer“, das von Musikkritikern über den Klee gelobt wird und zumindest in Falcos Heimatland die Nr. 1 der Albumcharts belegt. Ansonsten hält sich der kommerzielle Erfolg dieser Scheibe aber eher in bescheidenen Grenzen. Einige Jahre später, als Falco über diese Schmach resümiert, ist er der Meinung, er habe die qualitativ hochwertigen Texte besser in einem Buch als in einem Album verarbeiten sollen. Reinhören, hinhören und … zustimmen?!

The Style Council – Café Bleu
Paul Weller, Mick Talbot, Steve White und Dee C. Lee haben sich gerade erst im Jahr 1983 zusammengefunden und mit „Introducing The Style Council“ ein erstes, aus Singles zusammengestelltes Album veröffentlicht, da steht schon kurze Zeit später das erste richtige Studiowerk „Café Blue“ in den Regalen. Die daraus ausgekoppelten „My Ever Changing Moods“, ein reiner Klavier-Akustik-Song, und „You’re The Best Thing“ erreichen in ihrer Heimat Großbritannien gleichermaßen Rang 5 der Charts, noch im selben Jahr gefolgt von „Shout To The Top“, das die 7 belegt und auf dem 1985 releasten „Our Favourite Shop“ vertreten ist. 1990 schließlich lösen sich The Style Council auf, nachdem ihr letztes, recht progressives House-Album vom Label abgelehnt wurde. Der Rest um Paul Weller – dem Vorzeige-Britpopper schlechthin – ist Geschichte …

The Cure – The Top
Robert Smith gilt bis heute als eine Koryphäe des New, Dark und Gothic Wave und hat mit The Cure Musikgeschichte geschrieben. „The Top“ ist dabei eines der Alben, die ein wenig aus dem üblichen Kontext herausfallen. Eher experimentell sind die Sounds, derer sich Smith hierfür bedient und an denen er sich ausprobiert. Arabische Einflüsse, die sich auch im Coverdesign wiederspiegeln, sind Ausdruck eines gewissen Drangs nach Veränderung. Smith muss seinerzeit den plötzlichen Ausstieg seines Freundes Simon Gallup verarbeiten, der beim Vorgänger „Pornography“ noch wichtiger Bestandteil der Band war. Aufgrund vieler interner Konflikte und einer immer wieder veränderten Bandbesetzung schreibt Smith nicht nur den Großteil der Songs selbst, sondern spielt auch alle Instrumente – mit Ausnahme des Schlagzeugs – ein. Damit ist „The Top“ mit Nummern wie „Shake Dog Shake“, „The Caterpillar“ und „Piggy In The Mirror“ eher ein Smith’sches Soloalbum, als wirklich eines der Band The Cure.

Talk Talk – It’s My Life
Gegründet 1981, avanciert das Londoner Quartett um Sänger Marc Hollis im Eiltempo zu einer der wichtigsten Synth-Pop-Bands der 80er-Jahre und hebt sich insbesondere durch den ernsthafteren Anspruch in ihrer Musik vom Rest ab. Auch ihre breitgefächerte Instrumentierung und die im Vordergrund stehende Musikalität setzen vielen der damaligen Produktionen anderer Künstler eine neuartige Qualität entgegen. Mit ihrem zweiten Album „It’s My Life“ gelingt den Briten dann auch der internationale Durchbruch. Schon die Titelsingle findet sich – wenn auch nur mittelmäßig platziert – in einigen europäischen und US-amerikanischen Charts wieder, gefolgt von der um einiges besser funktionierenden zweiten Auskopplung „Such A Shame“. Das gesamte Album erreicht in Deutschland Platz 4 und wird später gleich mehrfach mit Gold ausgezeichnet.

Talking Heads – Stop Making Sense
Schon Mitte der 70er u.a. von Frontmann David Byrne ins Leben gerufen, veröffentlichen die Talking Heads 1984 mit „Stop Making Sense“ ihr zweites Live-Album. Bis zu diesem Zeitpunkt geht es den vier Amerikanern wie vielen anderen tollen Künstlern – von den Kritikern in den höchsten Tönen gelobt, vom Publikum hingegen nur geringfügig wahrgenommen. Das ändert sich mit eben jenem Release 1984. Der Konzertfilm von Regisseur Jonathan Demme und der dazugehörige Soundtrack machen die Band quasi über Nacht bekannt. Der lediglich aus mitreißenden Live-Aufnahmen ohne jegliches Footage bestehende Film vermittelt dem Zuschauer ein so konkretes Bild, dass er sich der Band und insbesondere ihrem charismatischen Frontmann Byrne nicht entziehen kann. Beide Veröffentlichungen werden zum größten kommerziellen Erfolg der Band. Songs wie das von Byrne solo mit Gitarre und Rhythmusbox vorgetragene „Psycho Killer“ oder „Once In A Lifetime“ und „Life During Wartime“ werden zu regelrechten Hits, obwohl sie zu diesem Zeitpunkt schon einige Jahre auf dem Buckel haben und zuvor kaum Beachtung fanden.

The Smiths – The Smiths
The Smiths gelten bis heute als eine der einflussreichsten Bands der Rockgeschichte und haben im Laufe ihres gerade einmal fünfjährigen Bestehens immerhin vier Studioalbum und zahlreiche Special Editions releast. „The Smiths“ ist das erste von ihnen und legt nach ein paar ersten Singles den Grundstein für diese einzigartige Karriere. In Großbritannien können sie damit direkt Platz 2 ergattern, wenngleich vielen Fans den Aufnahmen das Besondere fehlte, das die Konzerte der Band um Sänger Morrissey ausmacht. Morrissey ist für die damalige Presse thematisch ein gefundenes Fressen und bringt alles mit, was ein guter Rockmusiker eben so braucht – von der depressiven Jugend bis zur sexuellen Orientierungslosigkeit. Da werden Titeln wie „Reel Around The Fountain“ oder „The Hand That Rocks The Cradle“ auch gerne schon mal pädophile Anspielungen angedichtet. Insbesondere „Suffer Little Children“, das die in den 60ern in Manchester begangenen Moormorde thematisiert, kommt bei den Angehörigen der seinerzeit getöteten Kinder nicht gut an. „Over the moor, take me to the moor. Dig a shallow grave and I’ll lay me down.“ Noch im selben Jahr wird dann mit „Hatful Of Hollow“ ein weiteres Album releast, das B-Seiten der ersten Singles, einige bis dato unveröffentlichte Stücke und BBC-Radio-Session-Mitschnitte präsentiert.

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