Sternstunden: Das Jahr 1989

1989 ist ein geschichtsträchtiges Jahr. Nicht nur für Deutschland, auch wenn der Fall der Mauer den wohl größten Einschnitt der jüngeren Geschichte des bis dahin geteilten Landes markiert. Auch die ersten demokratischen Parlamentswahlen in Polen, der Abbau der Grenzanlagen Ungarns zu Österreich und der Grenzbefestigungen der Tschechoslowakei steuern ein Übriges zur Öffnung des Eisernen Vorhangs bei.

George H. W. Bush tritt seinen Posten als 41. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika an, während bei uns weiterhin Richard von Weizsäcker wichtigster Mann im Staate ist. Durch sein Buch „Die satanischen Verse“ gerät Salman Rushdie ins Visier des islamistischen Revolutionsführers Ruhollah Chomeini, der zu dessen Tötung aufruft. Am Ende ist es er selbst, der am 3. Juni in Teheran einem Herzanfall erliegt. Noch Anfang Oktober feiert man den 40. Geburtstag der DDR, ehe Erich Honecker wenige Tage später zugunsten von Egon Krenz seinen Posten räumt. Am 9. November dann gibt es vor Freude und Freiheitsdrang kein Halten mehr. Die Mauer ist weg, und dafür bedanken dürfen wir uns bei David Hasselhoff und seiner Hymne „Looking For Freedom“. Zumindest, wenn es nach ihm geht. Immerhin ist der Song acht Wochen lang auf Platz 1 der Singlecharts und hat natürlich maßgeblich zum Mauerfall beigetragen. Oder auch nicht. Am 22. Dezember wird das Brandenburger Tor – 28 Jahre nach dem Bau der Mauer – wieder geöffnet. ProSieben nimmt 1989 den Sendebetrieb auf, der Zirkus Flic Flac wird gegründet, Boris Becker und Steffi Graf gewinnen die Einzelwettbewerbe von Wimbledon, und die Autorin dieses Artikels erhält am 23. Mai nach stolzen 32 Fahrstunden ihren wohlverdienten Führerschein. Außerdem werden so einige Bands gegründet, die uns zukünftig noch viel Freude bereiten, darunter Blur, Helmet, Motorpsycho, The Notwist, Monster Magnet und The Verve.

Beastie Boys – „Paul’s Boutique“
Drei Jahre nach ihrem Debüt „Licensed To Ill“ veröffentlichen die Beastie Boys Album Nr. 2 und können ihren bereits mit der Nummer 1 gewonnenen Kultstatus weiter ausbauen. „Paul’s Boutique“ ist der sprichtwörtliche Meilensteinen in der Geschichte des HipHop, aufgenommen in Los Angeles und New York City. Spätestens zu diesem Zeitpunkt ist auch dem letzten Zweifler klar, dass die Beastie Boys mehr als nur ein One-Hit-Wonder sind. Stolze 105 Songs sind für dieses Album gespampelt worden, was diesen Bereich der Produktion seinerzeit völlig neu definiert. Songs wie „Hey Ladies“, „What Comes Around“ oder das beinahe 13-minütige „B-Boy Bouillabaisse“ revolutionieren das Genre und machen die Beastie Boys zu waren Göttern des HipHop – bis heute. Leider ist Adam Yauch aka MCA in diesem Jahr seiner Krebserkrankung erlegen, was das Ende der Beastie Boys bedeuten dürfte.

Fugazi – „13 Songs“
Zwei Jahre nach ihrer Gründung in Washington, D.C. veröffentlichen die Post-Hardcore-Punks ihr erstes Album, bestehend aus den Songs ihrer ersten beiden EPs „Fugazi“ und „Margin Walker“ . Darauf vertreten ist auch ihr bis heute wohl als größter Hit zu bezeichnender Song „Waiting Room“. Der Name der Band ist übrigens eine Abkürzung für einen amerikanischen Slangausdruck aus dem Vietnamkrieg für eine aussichtslose Gefechtssituation: „Fucked Up, Got Ambushed, Zipped In“. Erschienen ist „13 Songs“ auf dem Label Dischord, dessen Gründer Fugazi-Mitglied Ian MacKaye war, ein langjährig aktives Mitglied der Washingtoner Punkszene und bereits zuvor bei Bands wie Minor Threat tätig.

Madonna – „Like A Prayer“
Als 1989 Madonna Louise Ciccones viertes Album erscheint, befindet sie sich bereits auf dem Olymp ihrer Karriere. Um ihre Ernsthaftigkeit als Künstlerin zu unterstreichen, enthalten die Songs erstmalig autobiografisch geprägte Texte, und man wagt einige musikalische Experimente wie z.B. „Love Song“, ein Duett mit Kollege Prince. Schon das Video zur ersten Single, dem Titeltrack des Albums, weitet sich zu einem echten Skandal aus. Hier sieht man Madonna, die die Tötung einer jungen Frau beobachtet. Ein zur Hilfe geholter Afroamerikaner wird fälschlicherweise für den Täter gehalten und verhaftet. Madonna rettet sich auf der Flucht vor den wahren Bösewichten in eine Kirche, trägt Stigmata, küsst einen schwarzen Heiligen und befreit den Afroamerikaner aus dem Gefängnis. Seinerzeit erregte Madonna eben noch Aufsehen. Heute helfen da auch blanke Brüste und nackte Hintern nicht mehr viel. Neben „Ray Of Light“ ist „Like A Prayer“ zumindest Madonnas kommerziell erfolgreichstes Album – und das wird es wohl auch zukünftig bleiben.

Pixies – „Doolittle“
Es ist das dritte Album des Trios aus Boston, das im Januar 1989 erscheint. Als Label zeichnet sich 4AD verantwortlich, das außerdem die Releases von Hüsker Dü, Sonic Youth oder auch Dinosaur Jr. betreut. „Doolittle“ ist aber wohl eine der unvergesslichsten Indie-Platten dieser Zeit. Purer Surrealismus in Sachen lyrischer Ausgestaltung und ein wilder Mix aus kreischenden Gitarren, gebrüllten Texten, schmeichelnden Arrangements und spacigen Popmomenten. „Debaser“, „Here Comes Your Man“ oder „Monkey Gone To Heaven“ sind einzigartige Nummern, die viele nachfolgende Indie- und Alternative-Bands zwar beeinflussten, deren Größe so aber nie wieder erreicht wurde. Letzter von beiden waren sogar ein recht großer kommerzieller Erfolg und erreichten in UK immerhin die Top 10 der Salesscharts.

Soundgarden – „Louder Than Love“
Gegründet 1984, debütieren Soundgarden auf dem Albummarkt 1988 mit „Ultramega OK“(alb.228096). Im Herbst 1989 legen die Jungs aus Seattle mit „Louder Than Love“ auf dem Label A&M nach und untermauern ihren Status als wegweisende Band eines Genres, das es so zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht gibt. Neo Metal nennen sie selbst ihren Sound, als Hardrock bezeichnen es andere, vergleichen die Band mit Led Zeppelin und Black Sabbath, nennen „Louder Than Love“ eine der innovativsten Platten seit Metallicas „Master Of Puppets“. Ein Ritterschlag, der der Band um Sänger Chris Cornell mehr als gerecht wird, denn in den Folgejahren sind sie federführend, wenn es darum geht, dem 1990 entstandenen Begriff Grunge ein Gesicht zu geben. „Hands All Over“, „Power Trip“ oder „Loud Love“ werden zu Synonymen für eine ganze Generation von langhaarigen Karohemdenträgern. Und dass es Soundgarden auch 16 Jahre nach ihrem letzten Album „Down On The Upside“ noch drauf haben, beweisen sie in diesem Jahr erfolgreich mit ihrem sechsten Longplayer „King Animal“. Ein Werk, das dort anknüpft, wo die Band 1996 aufhörte – ganz ohne sich neu erfinden und verkaufen zu müssen.

NoFX – „S&M Airlines“
Schon 1983 gründet sich die heute als Synonym für Skatepunk alter Schule stehende Band, veröffentlicht allerdings erst zwei Jahre später auf Mystic Records erste Singles und EPs. Dem Debütalbum „Liberal Animation“ in 1988 folgt ein Jahr später auf Epitaph Records „S & M Airlines“, mit dem sich die Band gegenüber dem Vorgänger als gereift präsentiert und einen Stilwechsel manifestiert. Statt rauem Punkrock gibt es Songs mit Sturktur und Charakter, die Texte bedienen politische Themen. Echte Hits sind „Vanilla Sex“, der Titeltrack „S & M Airlines“, „You Drink You Drive You Spill“ und „Closer“ – ein Fleetwood Mac-Cover, bei dem Greg Griffin und Brett Gurewitz von Bad Religion zu hören sind. Letzter hat das Album übrigens auch produziert.

Nine Inch Nails – „Pretty Hate Machine“
Längst hat die Band um Trent Reznor alles erreicht, was man als Rockband so erreichen kann. 1989 allerdings standen NiN noch ganz am Anfang. Erst 1988 hatte man sich als Projekt zur Realisierung Trents musikalischer Ideen zusammengefunden. Im Studio sind weitere Musiker und Tontechniker lediglich als Assistenten gefragt, da Reznor die meisten Instrumente selbst einspielt und sich nur bei Konzerten von anderen begleiten lässt. 1989 dann präsentiert Raznor mit „Pretty Hate Machine“ sein Debütalbum und damit einen Meilenstein der jüngeren Rockgeschichte. Seinerzeit noch stark vom New Wave und den Synthieklängen der 80er-Jahre beinflusst, kann der hier präsentierte Sound am ehesten dem Industrial zugeordnet werden. Bis heute hat das Album dreifach Platin in den USA eingespielt. Die Singles „Head Like A Hole“, „Down It“ und „Sin“ werden ausgekoppelt, gerade Erstere wird von MTV enorm häufig gespielt und lässt den Bekanntheitsgrad von NiN in die Höhe schnellen.

Lenny Kravitz – „Let Love Rule“
Als dieser Mann auf der Bildfläche erscheint, lassen seine ansehnliche, dank Tattoo und Piercing etwas verruchte Optik und der 70er-Jahre-Retro-Dahinschmelz-Sound so manches Frauenherz höher schlagen. Allerdings ist Kravitz zu diesem Zeitpunkt noch mit Lisa Bonet – der Serientochter von Bill Cosby – verheiratet, die die Lyrics zum Song „Fear“ schrieb und ihn auch bei „Rosemary“ textlich unterstützte. Die wohl bekannteste Singleauskopplung aus seinem Debüt stellt „Mr. Cab Driver“ dar, ein Song über Diskriminerung und Rassismus. Überhaupt erweist sich Kravitz – dem erst mal das Kopieren alter Helden wie Hendrix und Prince vorgeworfen wird – in der Folge als weit mehr als nur einem gutaussehenden Boy mit Stimme und Gitarre. Nahezu alle Instrumente auf seinem Debüt hat er selbst eingespielt und kann sich mit den darauf folgenden Alben recht bald als vollständig akzeptierter Rockmusiker etablieren.

Sepultura – „Beneath The Remains“
Sepultura haben bereits zwei Alben veröffentlicht, als im Mai 1989 mit „Beneath The Remains“ das dritte erscheint. Mit dem Vorgänger, der sich insbesondere in ihrer Heimat gut verkaufte, konnte die Trash Metal Band das Label Roadrunner Records auf sich aufmerksam machen, die die Realisierung des dritten Longplayers supporten. Gerade einmal 8.000 Dollar sollen die Aufnahmen in Brasiliens größtem Tonstudio in Rio de Janeiro kosten, 16.000 Dollar aber werden es schlussendlich. Produziert wird das Werk von Ami Scott Burns, damals einer der wichtigsten Männer in der Death- und Trash Metal-Szene. Dieser nutzt den Job, um sich Brasilien einmal anzuschauen, auf das er schon länger neugierig ist. Sein Eindruck von diesem Land fällt dann eher mäßig aus, nachdem man bereits am ersten Tag sein Hotelzimmer ausraubt. Während die ersten beiden Sepultura-Alben von der Presse heftig verrissen wurden, kann „Beneath The Remains“ erstmalig Lob einfahren und gehört bis heute für viele zu den besten Trash Metal-Alben aller Zeiten.

Bad Brains – „Quickness“
Bad Brains aus Washington, D.C. haben sich vor allem einen Namen durch ihren recht ungewöhnlichen Mix aus Punk und Reggae gemacht. Crossover der ersten Stunde sozusagen. Gegründet hat sich die Band bereits 1977, seinerzeit allerdings noch im Bereich Jazzfunk angesiedelt und unter den Namen Mind Power agierend, ehe sie Ende des Jahrzehnts den Punkrock für sich entdeckten. Für viele nachfolgende Bands wie die Beastie Boys oder Minor Threat gelten sie als die Vorbilder schlechthin. 1983 löst sich die Band auf, um 1986 wieder zusammenzufinden und in den Folgejahren einige Alben, darunter auch das 1989er „Quickness“ zu veröffentlichen. „Quickness“ ist das vierte Album der Band, auf dem sich zu Punk und Reggae auch noch Elemente aus Funk, HipHop und Metal gesellen. Ins Gespräch gerät das Werk u.a. aufgrund des Songs „Don’t Blow Bubbles“ der als homophob interpretiert wird, die Theorie verbreitend, dass AIDS eine von Gott gewählte Strafe für Homosexualität sei.