„Tausend Zeilen“: Satirische Aufarbeitung eines Medienskandals

„Tausend Zeilen“: Satirische Aufarbeitung eines Medienskandals

Ende 2018 fliegt „Spiegel“-Mitarbeiter Claas Relotius als Betrüger auf. Vieles an seinen preisgekrönten Storys ist frei erfunden. Diesem Skandal widmet sich Bully Herbig mit der Mediensatire „Tausend Zeilen“, in der Elyas M’Barek den Enthüllungsjournalisten Juan Moreno mimt.

Es sind Reportagen wie „Der Junge, mit dem der Syrienkrieg begann“ oder ein Interview mit Traute Lafrenz, der letzten Überlebenden der „Weißen Rose“, mit denen Claas Relotius nicht nur die „Spiegel“-Chefetage, sondern auch die Leser des Magazins begeistert. Mehrfach wird der Journalist mit renommierten Auszeichnungen wie dem Peter-Scholl-Latour-Preis und dem Deutschen Reporterpreis bedacht. CNN kürt ihn 2014 sogar zum „Journalist of the Year“.

Relotius ist gerade einmal 33 Jahre alt, als seine unglaubliche Erfolgsgeschichte im Dezember 2018 ein jähes Ende findet. Juan Moreno, ein freier „Spiegel“-Kollege, deckt seinerzeit auf, dass ein wesentlicher Teil von Relotius‘ gefeierten und preisgekrönten Storys frei erfunden ist.

Aus Juan Moreno wird Juan Romero

Es war der Medienskandal des Jahrzehnts, der zumindest innerhalb der Branche hohe Wellen schlug. Es war zunächst nur ein Gefühl, dem Juan Moreno nachging und das sich alsbald als richtig herausstellte. Im September des darauffolgenden Jahres erschien mit „Tausend Zeilen Lüge“ ein Buch, in dem er den Skandal beleuchtet und das nun Regisseur Bully Herbig und Drehbuchautor Hermann Florin als Grundlage für den Film „Tausend Zeilen“ diente. Sie haben aus dem Stoff eine Satire gestrickt, die in weiten Teilen hervorragend funktioniert.

Lars Bogenius (Jonas Nay) und sein Kollege Juan Romero (Elyas M’Barek) arbeiten gerade gemeinsam an einem Artikel für das Magazin „Die Chronik“, als Letzterem einige Unstimmigkeiten in den schön formulierten Beschreibungen von Bogenius auffallen. Kann sich das alles wirklich so zugetragen haben? Romero beschließt, seinem Verdacht auf eigene Faust nachzugehen, denn die „Chronik“-Chefetage (Michael Maertens und Jörg Hartmann) hält zu ihrem gefeierten Helden. Eine Weile auch dann noch, als die Beweise für Bogenius‘ Flunkereien quasi auf der Hand liegen.

Und so muss Romero alles auf eine Karte setzen, um dem unlauteren Spiel seines gewieften Kollegen ein Ende zu bereiten. Gemeinsam mit dem Fotojournalisten Milo (Michael Ostrowski) begibt er sich auf eine Reise rund um den Globus, um den blumigen Behauptungen des mutmaßlichen Betrügers nachzugehen.

„Die Wahrheit. Sonst nichts.“

„Die Chronik“ wirbt mit dem Slogan „Die Wahrheit. Sonst nichts“, doch schon bald wird klar, dass es zumindest Bogenius damit nicht allzu genau nimmt. Er verbiegt Fakten, erfindet Gespräche und beschreibt Situationen, die so nie stattgefunden haben. Er kann so gut lügen, wie er schreiben kann. Ein ehrenhafter Journalist ist er aber nicht, auch wenn er das ganz selbstsicher bis zum Schluss von sich behauptet und ihm auch Herausgeber und Chefredakteur immer wieder auf den Leim gehen.

Dem aalglatten Betrüger gegenüber steht Romero, der dagegen fast ein wenig verlottert und chaotisch wirkt und sich zwischen Beruf, Berufung und Familie aufreibt. Etwas, das in dem eigentlich als Mediensatire angelegten Film doch ein bisschen zu viel Raum einnimmt und ihn an so mancher Stelle wie eine Familienkomödie erscheinen lässt. Unnötig, reißen diese Szenen den Zuschauer doch immer wieder aus dem wirklich wichtigen Geschehen heraus.

Aus Zeilen werden Bilder

Deutlich gelungener sind die Momente, in denen Romero den einzelnen Storys seines Kollegen nachgeht und der Film Bogenius‘ wohlformulierte Zeilen in Bilder verwandelt. Wer die Artikel von Relotius gelesen hat, wird einiges wiedererkennen. Da ist zum Beispiel die eingangs erwähnte Geschichte von Mouawiya Syasneh, der als 13-Jähriger den syrischen Präsidenten Assad per Graffito beleidigte und als Held gefeiert wurde. Mit ihm will Relotius gesprochen haben, doch stimmten am Ende nur wenige Fakten.

Oder die Reportage „Jaegers Grenze“, jene Zusammenarbeit von Relotius und Moreno, die den Stein ins Rollen brachte. Darin marschiert eine von Moreno begleitete Honduranerin mit ihrer fünfjährigen Tochter im großen Treck durch Mexiko, um in die USA zu fliehen. Auf der anderen, der Relotius-Seite, wartet der Amerikaner Chris Jaeger mit einer bewaffneten Bürgerwehr, um genau das zu verhindern. In Wirklichkeit hat Relotius diese selbsternannten Grenzwächter nie getroffen. Und auch in der Herbig-Filmadaption ist nicht alles so geschehen wie erzählt, vieles aber eben schon. Und genau das sind die Dinge, die man für schier unglaublich hält.

Alles in allem ist „Tausend Zeilen“ eine gelungene und kurzweilige Aufarbeitung eines einzigartigen Medienskandals, der den Journalismus und vor allem den „Spiegel“ erschüttert hat. Einzig durch eine konsequente Aufarbeitung der Ereignisse konnte das Magazin seinen Ruf wieder herstellen. Aktuell arbeitet übrigens Sky an einer Dokumentation über den Fall. Sie soll im Frühjahr 2023 über den Streamingdienst „Wow“ verfügbar sein.

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