Tom Schilling: „Mein Mindset ist Sehnsucht“

Tom Schilling: „Mein Mindset ist Sehnsucht“

Nach einem ersten Album 2017 widmet sich Tom Schilling erneut seiner großen Liebe, der Musik. Unter neuem Namen veröffentlicht er „neue deutsche Lieder über die Liebe und den Tod“. Was den 40-Jährigen dazu antreibt, erklärt er ntv.de im Interview.

2017 veröffentlicht Tom Schilling gemeinsam mit seiner Band The Jazz Kids unter dem Titel „Vilnius“ ein erstes Album und geht damit auf Tour. Anschließend verdingt er sich dann aber erstmal wieder als Schauspieler und es entstehen Filme wie „Werk ohne Autor“ und „Fabian oder Der Gang vor die Hunde“.

Nun widmet sich der 40-Jährige erneut seiner zweiten großen Leidenschaft und veröffentlicht unter dem neuen Namen Die Andere Seite Album Nummer zwei. Wie er über dessen Titel „Epithymia“ stolperte, was das überhaupt bedeutet und welche Gedanken und Gefühle ihn zum Schreiben seiner Songs inspirieren, verrät Tom Schilling im Interview mit ntv.de

ntv.de: Hallo Tom, das letzte ntv.de Interview war im August 2021. Da sagtest du meiner Kollegin, dass dir die Zurückgezogenheit in der Pandemie nichts ausmache. Jetzt haben wir einen düsteren Winter und viele weitere Einschränkungen hinter uns. Bist du inzwischen nicht doch wild darauf, andere Menschen zu treffen und neue Dinge zu erleben?

Tom Schilling: Ich habe mich lange zu Hause um alles gekümmert, weil meine Frau viel gearbeitet hat. Jetzt habe ich schon einen gewissen Drang, auch mal wieder unter Menschen zu kommen. Aber eigentlich muss ich sagen, dass es mir zu Hause gut geht oder ich wahrscheinlich gar nicht so der supersoziale Mensch bin. All dieses Schnelle, viele fremde Menschen und von einem zum anderen zu hetzen strengt mich eher ein bisschen an.

Wenn ihr im Mai live spielt, wäre es doch schon gut, wenn sich dort möglichst viele fremde Menschen vor der Bühne versammeln. Wird die Angst bleiben?

Bei mir ist es ja keine Angst vor einer Ansteckung oder einer Krankheit …

… sondern vor Menschen ganz allgemein?

Genau. (lacht) Manche Leute fühlen sind gesellig und mutig, andere ziehen sich lieber zurück. Aber ich denke schon, dass alle wieder zum alten Status quo zurückfinden werden.

Auf der Bühne steht ihr dann jedenfalls nicht mehr als Tom Schilling & The Jazz Kids. Was hat dich dazu bewogen, den Projektnamen zu ändern?

Bei mir passiert alles immer eher, als dass ich es plane, so wie das Album. Auch hatte ich nicht richtig geplant, wie es klingen und was die Themenwelt sein soll. Das kam aus mir herausgepurzelt. Erst dann kristallisierte sich etwas heraus. So entstanden die ersten drei, vier, fünf Stücke und ich habe bemerkt, dass es quasi ein Konzeptalbum wird. Der Arbeitstitel war mal „Neue deutsche Lieder über die Liebe und den Tod“ – ganz direkt und frei von Ironie. Es wäre total herausgefallen, etwas in Dur zu schreiben oder etwas, das leichter und lebensbejahender daherkommt. Als das Album fertig war, habe ich über einen Titel dafür nachgedacht und bin über „Epithymia“ gestolpert. In dem Moment kam die Frage auf, ob Tom Schilling & The Jazz Kids dafür wirklich noch der richtige Name ist. Vielleicht wird der für die nächste Platte dann wieder ein anderer sein.

Nun aber ist es erstmal Die Andere Seite – ein Synonym für den Tod …

Ich habe zu der Zeit viel The Doors gehört, vor allem „Strange Days“ (Album von 1967, Anm. d. Red.). Es ist also eine kleine Doors-Referenz. Ich finde, es passt in vielerlei Hinsicht gut, weil es Musik ist, die ein bisschen aus der Zeit gefallen scheint, nicht besonders modern ist. Es ist etwas anders, das Unterbewusstsein spielt eine große Rolle auf dem Album. Tom Schilling & Die Andere Seite klang allerdings, als hätte ich einfach die Band ausgetauscht.

Und es wäre auch ein bisschen sperrig, finde ich.

Genau. Also fand ich Die Andere Seite viel dezenter, glaubte aber, das Label würde es niemals erlauben, dass mein Name nicht mehr auf der Platte steht. Doch die fanden das super. Und ich finde es auch richtig gut, weil ich bei meinem Namen immer ein bisschen zusammenzucke, da ich denke, dass die Leute nur auf die Musik aufmerksam werden, weil sie meine Filme kennen.

Dir wäre es lieber, wenn ihnen einfach nur die Musik gefällt und sie deswegen zu den Konzerten kommen?

Genau. Die Musik ist total persönlich. Das sind die Rollen, die ich spiele und was ich da reinlege, zwar auch. Trotzdem ist es was anderes, ob auf der Platte Tom Schilling steht oder auf einem Filmplakat.https://www.youtube-nocookie.com/embed/8Ff9VtgwOts?rel=0&showinfo=0

Fühlt es sich auch anders an, Promo für die eigene Musik als für einen Film zu machen?

Ich bin schon nervöser. Beim Film fällt es mir leichter, je besser mir der Film gefällt. Aber das hat man nicht immer in der Hand, weil er vor allem von der Regie gemacht wird, das Buch eine Rolle spielt und auch der Schnitt. Bei meiner Musik bin ich für jede Entscheidung selbst verantwortlich, die zum fertigen Produkt geführt hat. Und ich muss sagen, dass ich richtig stolz auf die Platte bin. Ich hätte nichts anders gemacht, habe nichts zu bereuen und bin trotzdem aufgeregt – weil es so persönlich ist. Und weil ich total gespannt bin, wie die Musik auf andere wirkt. Es ist ja schon speziell, etwas so Persönliches zu machen und es den Leuten hinzuwerfen.

Aber das erste Mal ist es nicht. Demnach hat dir die Resonanz auf das erste Album gefallen?

Als die erste Platte draußen war, hätte ich mir nicht vorstellen können, noch mal eine zu machen. Oder wenn, dass es zehn Jahre oder länger bis dahin dauert. Dass ich plötzlich angefangen habe zu schreiben, hatte private Gründe. Ich war in einem Zustand, in dem ich ein Ventil brauchte. Das war das Schreiben und da sind die Lieder in zwei, drei Monaten entstanden. Es ging Schlag auf Schlag, wie im Rausch. Das Gute und Befreiende in meinem Fall ist, dass ich nicht nur Musiker und in dieser Mühle drin bin. Dass ich nicht eine Platte schreiben muss, um damit auf Tour zu gehen. Mein Produzent und ich hatten alle Zeit der Welt. Wir hatten keine Deadline, was super war.

Verzettelt man sich ohne Deadline nicht auch gerne mal?

Ja, okay, wir sind auch ein bisschen faul. (lacht)

Deine Einflüsse sind hörbar: Nick Cave, Velvet Underground, Leonard Cohen, Bob Dylan – also eher Moll und Melancholie. Wie würdest du deine musikalische Sozialisation beschreiben?

Die hat ihre Ursprünge in einem Gefühl, glaube ich. Mein Mindset ist Sehnsucht. Deswegen heißt das Album auch „Epithymia“ (griechisch für Wunsch/Verlangen, Anm. d. Red.). Es gibt viele Künstler, ob in der bildenden Kunst, beim Film, Autoren, die ähnlich ticken. Die Sehnsucht und das unstillbare Gefühl, das einen innerlich zerreißt und die Welt intensiv erfahren lässt, vereint ganz viele. Die russische Seele, die deutsche Romantik, der portugiesische Fado – zu all diesen Sachen fühle ich mich hingezogen. Sozialisiert werde ich dann durch Dinge, die ich entdecke. Zum Beispiel, als ich mit acht oder neun Jahren im Autoradio bei meinen Eltern Leonard Cohen gehört habe. Da wusste ich schon, dass mich das mehr berührt als Phil Collins.ANZEIGE

Dann sollten wir auch noch mal über den Titel „Epithymia“ sprechen, über den du gestolpert bist. Das ist mir noch nie passiert, muss ich zugeben …

Ich habe einen Beitrag im Deutschlandfunk gehört. Dort gab es ein Radiofeature zum Thema Sehnsucht. Da ist es passiert und ich dachte sofort: Das ist mein Lebensthema, das des Albums, und Sehnsucht als Wort war mir zu abgegriffen. Außerdem haben Rammstein ihr zweites Album auch schon so genannt. Und nach der ersten Platte „Vilnius“ fand ich ein einzelnes Wort als Titel sowieso gut. Etwas Rätselhaftes, bei dem man nicht gleich weiß, wofür es steht.

Wie groß ist denn deine Sehnsucht, deine Songs live zu spielen? Oder wie nervös macht dich das?

Ich finde die Songs gut, aber ich bin unfassbar aufgeregt, sie zu spielen, das ist für mich eine große Überwindung. Wenn ein Abend funktioniert, ist das aber auch immer ein erhebendes Gefühl. Insgesamt ist das alles also sehr ambivalent. (lacht) Meistens traue ich mich nicht, mir einen Auftritt von mir anzusehen. Es gibt Mitschnitte auf Youtube und einige finde ich nicht so toll. Manchmal denke ich aber auch: „Ey, das ist eigentlich ganz gut, entspann dich.“ Es ist für mich auf jeden Fall der herausforderndste Teil beim Musikmachen. Das Schönste ist das Schreiben. Wobei … das stimmt auch nicht. Manchmal ist es ein ziemlicher Krampf, ein gutes Lied zu schreiben. Aber wenn man dann auf dem richtigen Weg ist, man die Zeile hat, es irgendwann klickt und man weiß, wo sie hin muss, dann macht es totalen Spaß.

Viele Schauspieler probieren sich in anderen Gewerken aus – als Autor oder in der Regie, als DJ oder in der Fotografie. Du hast dir die Musik ausgesucht oder war es umgekehrt?

Ich frage mich das selbst, aber offenbar gab es dieses Verlangen in mir, Musik zu machen. Ich komme aus einem musikfernen Haushalt, meine Eltern spielen keine Instrumente. Ich habe als Kind höchstens mal ein bisschen Keyboard geübt. Dann habe ich mir mit Anfang 20 selbst das Gitarrespielen beigebracht, danach Klavier, alles autodidaktisch. Ich habe nämlich gemerkt, dass ich das im geschützten Raum zu Hause machen und es dort voranbringen musste. In mir steckt eine große Angst vor Fehlern und die wollte ich nicht vor anderen machen.

Aber irgendwann hast du den geschützten Raum verlassen …

Freunde von mir hatten zu Silvester ein Konzert für andere Freunde geplant, da habe ich gefragt, ob ich dabei Klavier spielen darf. Wir haben für den Auftritt ein paar Stücke wie „Das Model“ von Kraftwerk und irgendwas von My Morning Jacket neu arrangiert. Dieser Abend hat mich nicht mehr losgelassen, es hat mich sehr berührt und bewegt. Das war vor etwa zehn Jahren. Schon damals habe ich den Entschluss gefasst, dass ich irgendwann unbedingt mal eine Platte machen will.

Ist 2022 für dich das Jahr, das du der Musik widmest, oder kommt auch noch ein Film mit dir?

In diesem Jahr kommt nichts mehr – abgesehen von einem Kurzauftritt in Leander Haußmanns „Stasikomödie“. Die ist aber schon vor drei Jahren gedreht worden. Kleiner Fun Fact: Das verstörende Lied „Gera“ vom Album habe ich während dieser Dreharbeiten geschrieben. (lacht)

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