Freunde nennen Chilly Gonzales nur Gonzo, und diesen Namen trägt nun auch sein neues Album. Warum der 52-Jährige seit Kurzem wieder rappt, wie er zu Cancel Culture steht und was das alles mit Richard Wagner zu tun hat, erzählt der Kanadier im Interview mit ntv.de.
Freunde nennen Jason Charles Beck alias Chilly Gonzales schlicht Gonzo, und diesen Namen trägt auch der neueste Longplayer des 52-jährigen Kanadiers mit jüdischen Wurzeln. Und dieser Gonzo ist in seinem Leben viel herumgekommen. Seine Musikkarriere startete Gonzales noch in seiner Heimatstadt Montreal. Ende der 1990er-Jahre lebte und arbeitete er in Berlin, ging 2003 nach Paris, ehe es ihn 2011 nach Köln zog, wo er bis heute wohnt.
Unzählige Alben entstanden in dieser Zeit. Mal wird darauf gerappt, mal sind es reine Piano-Kompositionen. Der gern in Bademantel und Schlappen auftretende Chilly Gonzales arbeitete mit Künstlerinnen wie Leslie Feist, Peaches, Jarvis Cocker und stand schon mit Helge Schneider auf der Bühne. Sogar ein Buch hat er geschrieben – über die Sängern Enya. Seine post-weihnachtlichen Veranstaltungen in der Kölner Philharmonie sind legendär und stets lange im Voraus ausverkauft.
Nach dem 2023 erschienenen „French Kiss“ gibt es mit „Gonzo“ rund ein Jahr später also wieder ein neues Album. Warum man Chilly Gonzales nach langer Gesangspause plötzlich wieder am Mikrofon hört, wie er zu Cancel Culture steht und was das alles mit Richard Wagner zu tun hat, erzählt er im Interview mit ntv.de.
ntv.de: Du hast schon für „French Kiss“ und jetzt für „Gonzo“ deine (Rap-)Sprache wiedergefunden. Was ist passiert?
Chilly Gonzales: Genau, ich habe erst ein Album auf Französisch aufgenommen. 2023 war mein französisches Jahr. (lacht) Dass ich in dieser Sprache geschrieben habe, war aber keine bewusste Entscheidung, sondern ganz instinktiv. In einer anderen Sprache als der Muttersprache zu schreiben, hat zwar etwas Befreiendes, aber man ist auch ein bisschen vorsichtiger. Und tatsächlich habe ich davor zehn Jahre gar keine Texte geschrieben – während ich in einer sehr intensiven psychoanalytischen Therapie war.
Du hast deine Worte also praktisch schon in diesen Sitzungen bei deiner Therapeutin verbraucht, sodass am Ende für Lyrics keine mehr übrig waren?
Ja, ich denke schon. Man sucht bei so einer Psychoanalyse nach unbewussten Emotionen und benennt sie. Das ist ein wissenschaftlicher Prozess, und der war sehr heilsam für mich. 2021 war diese Therapie vorbei, und 2022 kamen die Texte wieder. Es war, als würde man das Wasser anstellen, und es hörte nicht mehr auf. Ich bin ein instinktiver Künstler und warte immer darauf, dass etwas passiert. Ein paar Jahre waren es die „Piano Sessions“, manchmal habe ich dann wiederum Lust auf Kollaborationen … Ich warte, dass sich mir die Richtung zeigt, in die ich gehen soll. 2022 waren es Worte, und da kamen die französischen irgendwie zuerst.
Wie ist es um dein Deutsch bestellt?
Mein Deutsch ist fabelhaft. (lacht) 2023 habe ich meinen ersten Roman auf Deutsch gelesen. „Faserland“ von Christian Kracht. Das war das erste Mal, dass mein Deutsch gut genug war, um ein ganzes Buch zu lesen und es zu genießen. Es war eine Empfehlung eines anderen englischen Muttersprachlers, weil sich Kracht einer literarischen, aber direkten, einfachen Sprache bedient. Er hat eine eigene Sprachwelt, benutzt nicht zu viele Worte.
Und deswegen gibt es mit „I.C.E.“ nun auch ein Stück auf Deutsch?! Eigentlich unnötig zu fragen, was dich dazu inspiriert hat, aber … was ist die Aussage?
Ich verbringe sehr viel Zeit im Zug. Auch damals, als ich 1998 das erste Mal längere Zeit in Deutschland war, bin ich damit viel gereist. Da war die Deutsche Bahn noch ein Meisterwerk der deutschen Kultur – heute ist es ja eine Shitshow. Das Zugfahren repräsentiert meine Zeit in Deutschland und ist eine Metapher für das Gute und das Schlechte hier. Ich bin verliebt in Deutschland. Aber wenn du jemanden liebst, kannst du auch kritisch sein, es ist nicht alles fantastisch.
Ist es eine Hassliebe?
Nein, so weit würde ich nicht gehen. Hass empfinde ich nicht, es ist eher eine realistische Liebesbeziehung, die ich mit diesem Land habe. Ich bin von Paris nach Köln gezogen, und mich haben immer alle Leute gefragt: Warum? Ich habe auch nicht etwa meine Wohnung in Paris behalten, sondern bin bei Köln all-in gegangen. Die Deutschen haben einen Minderwertigkeitskomplex, stolz aufs Deutschsein ist hier verboten. Dieser Stolz ist von den extremen Rechten missbraucht worden, das verstehe ich. Aber ich finde, ihr solltet das Land mal aus meiner Perspektive sehen, mit dieser Liebe. Darum geht es in „I.C.E.“. Das ist mein erstes und letztes Lied auf Deutsch. So viel steht fest.
Was ist es denn, das du an Köln so magst? Die meisten Musiker aus dem Ausland zieht es ja doch nach Berlin.
Ich mag ein entspanntes Leben, wenn ich zu Hause bin, denn ich bin viel unterwegs. Berlin verbinde ich immer mit viel Action, vielen Menschen, weiten Strecken, langen Taxi- oder Bahnfahrten. Ich möchte lieber der flanierende Künstler sein. Aber ein Dorf wäre auch nichts für mich. Von Köln aus komme ich außerdem mit dem Zug schnell überall hin, denn ich hasse Flughäfen und das Fliegen an sich. Die zehn Jahre in Paris waren zwar auch schön, aber anstrengend, denn dort geht es nie direkt und normal zu, es ist immer alles ein höfischer Auftritt. Das kann ich jetzt genießen, wenn ich zu Besuch bin, weil ich mich danach in Köln wieder zu Hause fühlen kann.
Bist du nicht nur in Köln, sondern auch bei dir selbst angekommen und hast das neue Album deswegen „Gonzo“ genannt?
Ich würde eher sagen, Gonzo ist meine Rap-Persönlichkeit. Die Energie ist subversiver, provokativer. Wenn ich Klaviermusik mache, stammt diese vom Maestro – eben von Chilly Gonzales. Aber der Rapper in mir ist Gonzo. Ich habe die Energie genommen, die ich schon vor 20 Jahren hatte, und sie neu interpretiert. Der Unterschied ist, dass die Lyrics von damals zwar lustig, aber auch düster waren, voller Selbsthass. Doch ich habe das seinerzeit gar nicht so gefühlt. Das kam aus meinem Innern, dem Unterbewusstsein. Durch die Psychoanlayse habe ich gelernt, meine Gefühle auszudrücken, und so sind die Texte zwar immer noch komplex und intensiv, aber sie zeigen ehrlich, was ich fühle. Heute gebe ich mir selbst eine Umarmung, wenn ich die Dinge ausspreche, das habe ich früher nicht getan.
Beim Song „F*ck Wagner“ behandelst du Sinn und Unsinn von Cancel Culture. Ist es in deinen Augen möglich, die Kunst vom Künstler zu trennen?
Niemand kann seine Meinung über jemanden und etwas ändern, indem er einfach einen Schalter umlegt. Manchmal haben wir Erinnerungen an schöne Dinge in der Vergangenheit, die wir beispielsweise mit der Musik eines bestimmten Künstlers verbinden. Du kannst das nicht einfach abstellen. Die Musik ist ein Teil dieser Erinnerung. Deswegen muss man Kunst und Künstler trennen, aber das entscheidet natürlich jeder für sich selbst. Wir müssen diese Diskussion jedoch mit dem Wissen führen, dass niemand perfekt ist. Ich nenne niemanden zu 100 Prozent böse, und ich bin selbst nicht zu 100 Prozent gut. Auch ich bin unperfekt, und womöglich ist die Person, um die es geht, noch ein bisschen kaputter als ich. „Wir sind alle ein bisschen Richard“ ist der wichtigste Part des Songs. Ich cancele Wagners Musik nicht, sie hat einen großen Impact auf mich und überhaupt auf die westliche Musik gehabt. Aber Wagner war nicht einfach nur ein Antisemit, er hat ein Buch darüber geschrieben: „Das Judentum in der Musik“. Er war ein aktiver Promoter von Judenhass, und es spielt keine Rolle, wie lange das her ist.
Du kannst also trotz Wagners unrühmlicher Geschichte seiner Musik huldigen. Aber du setzt dich dennoch dafür ein, dass die Kölner Richard-Wagner-Straße in Tina-Turner-Straße umbenannt wird …
Ja, wir sollten ihn durch etwas Positiveres ersetzen, denke ich. Es geht nicht darum, die Vergangenheit unter den Teppich zu kehren, sondern etwas Besseres zu erschaffen. Und da kommt Tina Turner ins Spiel. Die Petition hat im Moment so um die 14.000 Unterschriften. Ich habe eine Bürgeranfrage bei der Stadt laufen, aber das ist alles in allem ein sehr langwieriger Prozess.
Während Richard Wagner ja nun schon länger tot ist, verdient jemand wie Kanye West weiter Geld mit seiner Musik, egal, wie viel menschenverachtenden Irrsinn er redet. Würdest du da einen Unterschied machen?
Im Falle von Wagner fließt das Geld, das mit seiner Musik bei den Bayreuther Festspielen eingenommen wird, sogar in die Aufklärung über Antisemitismus. Dass er ein Monster war, wird dort überall thematisiert. Bei Kanye West ist es für mich ähnlich. Ich denke nicht, dass du mit dem Streamen seiner Musik auch seine Ansichten unterstützt. Ich kann allerdings keine Woody-Allen-Filme mehr sehen, das ist mir persönlich zu creepy. Wests Musik zu hören, gibt mir dieses Gefühl nicht. Jeder hat seine eigenen Grenzen. Seine eigene Stieftochter zu daten ist für mich eben problematischer, als antisemitischen Blödsinn zu reden, weil du mental krank bist. Du merkst, ich habe auch keine richtige Antwort. Aber ich denke eben auch nicht, dass es die perfekte Lösung ist, jemandem Aufmerksamkeit und Geld zu entziehen.
Ich schätze, du warst auch noch nie ein großer Rammstein-Fan?
Nein, wirklich nicht. In dem Fall hätte ich kein Problem damit zu sagen, dass der Sänger ein beschissenes Arschloch und ein Creep ist und womöglich auch ein Krimineller. Das ist leicht, weil ich zu der Musik nie eine emotionale Verbindung hatte. Es ist schwer, etwas zu canceln, das du liebst. Und es ist sehr einfach, das zu tun, wenn du es sowieso nicht magst. Du kannst dich in die Kunst von jemandem verlieben, über den du nichts weißt. Und solange du nichts über denjenigen weißt, kannst du alles in seine Kunst hineinprojizieren, was du möchtest. Aber wenn du herausfindest, dass die Person nicht perfekt oder gar kriminell ist, dann wird es problematisch.
Bei „Neoclassical Massacre“ geht es um Streamingdienste, deren Algorithmen und das Produzieren von Inhalten für eben diese. Glaubst du, dass zu viele Künstler dem Wunsch der Masse folgen?
Was man als Künstler auf jeden Fall vermeiden muss, ist, den Algorithmus die Musik bestimmen zu lassen. Ich arbeite in zwei Schritten. Der erste ist kompromisslos, es geht um die Kunst an sich, ohne mich von irgendetwas im Außen dabei beeinflussen zu lassen. Ich lasse es passieren, beurteile es nicht, stelle es fertig. Und dann kommt der schwierige Prozess, dann setze ich einen anderen Hut auf. Dann werde ich zum Marketing-Genie, zum Meister des Clickbaits, zum Head of Controlling. (lacht) Aber zu viele lassen den Algorithmus ihre Kunst bestimmen, das ist es, wovon ich spreche. Ich liebe den Algorithmus und mir zu überlegen, wie ich ihn für mich nutzen kann. Ich finde es gut, dass heute nicht mehr nur eine kleine Gruppe von Menschen in irgendeinem Büro darüber bestimmt, was gehört werden soll. Das Musikgeschäft ist kein Gatekeeper-Business mehr. Früher wäre es für jemanden wie mich unmöglich gewesen, darin Fuß zu fassen. Ein jüdischer Klavierkomponist, der rappt – ich bitte dich! Also danke an das Internet und Youtube, die meine Karriere überhaupt erst möglich gemacht haben. (lacht)
Eine Karriere, während derer du einen Großteil der Zeit auf der Bühne verbringst …
Das stimmt, ich bin immer ein bisschen auf Tour. Im Kopf bin ich nie weit weg von der Bühne. Alles was ich mache, hat damit zu tun. Ich teste meine Lieder natürlich auch live. Ich brauche die Bestätigung vom Publikum. Berührt die Musik, hat sie einen Effekt, löst sie etwas in den Leuten aus?
Du bist in Berlin bald für eine Show im Konzerthaus, hast neulich in Köln vor dem Dom gespielt. Welche Rolle spielt die Location für dich und deine Performance?
Sowohl auf dem Roncalliplatz in Köln sowie vor einiger Zeit im Tempodrom in Berlin war die Herausforderung, den richtigen Moment abzupassen, um die Aufmerksamkeit des Publikums zu bekommen für die Pianostücke. Das ist mir gelungen. Irgendwann war es totenstill und ich habe 12 bis 15 Minuten Klavier gespielt. Im Konzerthaus wird es genau umgekehrt sein. Dort sind die Leute fokussiert, da geht es darum, sie dazu zu bekommen, aufzustehen, zu tanzen und Spaß zu haben.