Die Ärzte: „Wir sind alle drei irgendwie Psychiater“

Die Ärzte: „Wir sind alle drei irgendwie Psychiater“

Was sich lange ankündigte und noch länger von den Fans erhofft wurde, wird endlich Wirklichkeit. Am Freitag erscheint mit „Hell“ ein neues Album von Die Ärzte. Mit ntv.de haben Farin, Bela und Rod über die eigenen Erwartungen, den Irrsinn von Verschwörungsideologien und das Ende der Band gesprochen.

Die beste Band der Welt ist endlich wieder da. Acht Jahre ist die Veröffentlichung des letzten Die-Ärzte-Albums „auch“ schließlich schon her, zwei sind seit dem Release ihrer allumfassenden LP-Box „Seitenhirsch“ vergangen.

Nach den Singles „Abschied“ und „Rückkehr“ im vergangenen Jahr, dem Corona-Song „Ein Lied für Jetzt“ und den ersten beiden Singleauskopplungen „Morgens Pauken“ und „True Romance“ in diesem erscheint am Freitag nun endlich das neue und damit 13. Studioalbum der Ärzte. Darauf zu finden sind Songs mit den für sie so typischen Spaßtiteln wie „Woodburger“, „Warum spricht niemand über Gitarristen“ oder „Achtung: Bielefeld“, aber auch mit den ebenfalls von ihnen gewohnten ernsteren Inhalten.

Farin Urlaub, Bela B und Rod Gonzalez haben mit ntv.de unter anderem darüber gesprochen, warum sie die Ängste der Fans um eine Auflösung der Band nicht nachvollziehen können, und wie überrascht sie selbst über den rasanten Ausverkauf ihrer nun leider verschobenen Tour waren.

ntv.de: Verspürt ihr nach so vielen gemeinsamen Jahren als Band zur selben Zeit den Wunsch, etwas Neues zu machen, oder muss dann doch einer von dreien Überzeugungsarbeit leisten?

Farin Urlaub: Es war dieses Mal deutlich komplizierter. Nach der letzten Tour waren wir uns nämlich gar nicht mehr so grün. Wir konnten uns einfach nicht mehr riechen. Tatsächlich hätte ich das Ganze wahrscheinlich komplett ad acta gelegt, hätte Bela nicht eine gewisse Hartnäckigkeit bewiesen. Er hat aber erstmal nur gesagt: „Lass doch mal treffen und drüber reden.“

Bela B: Es war einfach mal wichtig, dass wir uns mal außerhalb der gewohnten Arbeitssituation treffen, uns mindestens einmal im Jahr sehen, was wir seitdem auch gemacht haben. Dann spielte ich mit einer Gipsy-Swing-Band in Jamel auf einem Konzert gegen Rechts („Jamel rockt den Förster 2016“ – Anm.d.Red.), und da konnte ich die beiden überreden, dort mit mir „Schrei nach Liebe“ zu spielen. Danach kam dann jemand aus unserem Umfeld auf die Idee, mal zu gucken, ob uns noch Leute auf Festivals hören wollen würden. Ungefragt. (lacht) Das hat den Stein dann ins Rollen gebracht. Aber keiner von uns wollte, dass Die Ärzte nur Verwalter ihrer Vergangenheit werden und die „Westerland Tour 2020“ spielen.

Farin: Das war dann alles sehr organisch. Wir dachten, wir spielen erstmal diese größenwahnsinnige Europatour. Da war uns allerdings noch nicht klar, ob uns das wirklich Spaß machen würde.

Bela: Es war uns nicht klar bis zum letzten Drittel des ersten Konzerts in Warschau …

Farin: Nee, bei mir hat es bis Zagreb (drittes Konzert – Anm.d.Red.) gedauert, bis ich zugegeben habe, dass es total Spaß macht.

Bela: Zagreb war aber auch der kleinste Laden, in dem wir seit Ewigkeiten gespielt haben, 600 Leute.

Wie ja eigentlich die ganze Tour gespickt war mit kleinen Läden, wie ihr sie in Deutschland nicht mehr bespielen würdet. Fühlte sich das nicht an wie eine Reise zurück in die 1980er-Jahre?

Rod Gonzalez: Wie früher wäre es gewesen, wenn wir mit der ganzen Crew im Vito gefahren wären und alle im Gemeinschaftszimmer im Hostel geschlafen hätten. Aber wir waren schon auf einer anderen Ebene; zwar kleine Hallen, aber wir sind viel geflogen, waren in guten Hotels.

Farin: Es war aber trotzdem ein Riesenspaß. Vermutlich meinst du ja eher das Gefühl beim Konzert selbst?!

Ja, ich hätte gern etwas Romantischeres gehört.

Bela: Insgesamt war es krass gut. In Italien hatten wir die größte Venue mit 3500 Leuten, das war fast schon unangenehm, weil es so riesig war im Vergleich zum Rest. (lacht) Noch bevor wir dann im Anschluss die Festivals in Deutschland gespielt haben, beschlossen wir, ins Studio zu gehen.

Rod: Moment, die Reihenfolge war anders. Wir haben erst beschlossen, im Winter eine Hallentour zu machen, und dann kam die Idee mit dem Album auf den Tisch.

Um neues Material für die Tour zu haben?

Farin: Auch das war Teil der Diskussion. Rod hatte gar nicht so eine Lust auf Studio. Dann haben Bela und ich aber Songs vorbereitet und er hat sich breitschlagen lassen. (lacht)

Er hat also erkannt, dass da Potenzial drinsteckte …

Farin: (lacht) Scheint so. Es ist doch auch nichts schlimmer, als zu sagen: „Wir MÜSSEN jetzt mal wieder ein Album machen.“ Dahin wollten wir nie kommen.

Bela: Ich wollte außerdem nicht, dass wir auf den Festivals nur unseren Backkatalog verwalten. Farin hatte zwei sehr passende Songs in petto, so sind wir erst mal ins Studio gegangen und haben testweise „Abschied“ und „Rückkehr“ aufgenommen, damit wir was Neues haben und die Konzerte nicht so nach Best-Of riechen.

Und doch spielt ihr immer wieder mit der Angst der Fans, dass es tatsächlich ein Abschied für immer sein könnte. Auch über das neue Album wird ja schon wieder als das letzte spekuliert.

Bela: Nee, wir sind das nicht.

Farin: Die Fans steigern sich total in was rein. (lacht)

Bela: Die Leute lieben die Angst. Und wenn es in einem Jahr mit den Hygienedemos vorbei ist, müssen sie eben wieder vor etwas anderem Angst haben.

Naja, dass ihr für eure neue Single das Foto gewählt habt, das auch schon auf dem Cover der „Fleisch EP“ eurer ersten Band Soilent Grün war, hat die Angst aber womöglich einmal mehr geschürt.

Farin: Dann erzähle ich mal die wahre Geschichte. Bela und ich haben telefoniert und rumgesponnen. Unter anderem über den Songtitel „Morgens Pauken“, der fiel damals schon. Aus Spaß sagte ich dann, dass wir auf das Cover das Foto von der ersten Soilent-Grün-Single packen. Bela fand die Idee geil, ein bisschen back to the roots, aber auch ein bisschen absurd. Rod fand Titel und Coveridee gut. Und nun gibt es Fans, die sagen, es schließt sich der Kreis. Aber hey, come on, es ist doch nur die Single! (lacht)

Bela: Es ging jedenfalls alles sehr schnell, diese Geschichte, aber auch die Sache mit ein „Ein Lied für Jetzt“, unserem Corona-Song. Ich habe zu Hause die erste Strophe und Refrain mit dem Handy aufgenommen, Farin das File geschickt, und drei Minuten später kam seine zweite Strophe. Dann haben wir noch drei Tage gebraucht, um Rod davon zu überzeugen. (lacht)

Hat euch der kreative und humoristische Ansatz aus dem ersten Corona-Tief herausgeholfen?

Farin: Natürlich, wir haben es gemacht, um die Situation erstmal zu verarbeiten. Was Bela mir geschickt hat, war spontan und nur für uns. Die Idee, den Song ins Netz zu stellen, kam erst danach.

Bela: Zu dem Zeitpunkt war nicht klar, wie wir überhaupt weitermachen können. Ich lebe ja schon seit einiger Zeit in Hamburg, wie also sollten wir zukünftig gemeinsam einen Song aufnehmen? Und dann entstand die Idee, es mit dem Smartphone zu versuchen. Danach das Video. Jeder filmt sich selbst, und wir machen das mit Splitscreen. Das Ganze hat aber auch gezeigt, wie blind und vor allem wie gut wir uns grad wieder verstehen. (lacht)

Wie hat die neue Situation die Fertigstellung des Albums beeinflusst? Oder war da schon alles in trockenen Tüchern?

Bela: Die Pandemie hat uns alle erst mal sehr getroffen, deshalb haben wir unsere Studiozeit auf Farins Wunsch hin verschoben. Erst um zwei, dann um vier Wochen. Wir mussten erst mal darüber nachdenken, wie wir damit umgehen. Im Oktober 2019 hatten wir Bass und Schlagzeug zu fast allen Liedern aufgenommen, zu vielen auch schon Gitarre und Gesänge. Dann kam eine gewollte Pause, weil Rod schon länger eine Reise geplant hatte. Diese Pause wurde dann länger und länger.

Farin: Wir haben wirklich einen großen Teil des Albums unter Quarantäne-Bedingungen aufgenommen. Ich habe einen Monat das Studio kaum verlassen, nur zum Spaziergang am Nachmittag mit Maske. Das war wirklich bizarr.

Bela: Den zweiten Teil haben wir in Hamburg statt wie geplant in Berlin aufgenommen. Das Studio in Berlin war gefühlt zu mittendrin und ging einfach nicht.

Die Tour musste nun aufs nächste Jahr verschoben werden. Hätte ihr euch auch ein Konzert unter Corona-Bedingungen vorstellen können?

Farin: Ganz ehrlich, möchtest du ein Konzert erleben, wo der Mensch, mit dem du pogen sollst, vier Meter entfernt steht?

Eher nicht. Und wie soll bei einer bereits ausverkauften Tour auch entschieden werden, wer hingehen darf und wer nicht?

Farin: Oder: Wer soll das bezahlen? Das Ticket muss dann 250 Euro kosten, damit wir überhaupt auf den Break-even kommen. Dann sind wir Kommerzschweine, und es gibt trotzdem keine Stimmung. Vergiss es.

Rod: „Und jetzt eine La Ola von Peter und Stefan …“ (lacht)

Farin: Um aber auch mal was Gutes an der Situation zu finden, denn ich bin ja ein unverbesserlicher Optimist: Wir hatten sehr viel Zeit, uns auf das Album zu konzentrieren, besonders in der zweiten Rutsche. Es gab kaum Ablenkungen. Mit wem hast du dich getroffen? Mit niemandem. Was hattest du zu tun? Nichts. Okay, die beiden Väter haben noch mal ein bisschen mehr zu tun als ich, aber es war schon sehr reduziert. Das heißt, es ist sehr viel Liebe in das Album geflossen und sehr viel Zeit, die man sonst einfach gar nicht gehabt hätte.

Der Optimist glaubt auch, dass die Pandemie gesamtgesellschaftlich mit uns was Gutes macht.

Farin: Ich glaube, eine Änderung ist nie nur gut, aber sie ist auch nie nur schlecht. Ich kann nur für mich selber sprechen, aber innerdeutsche Flüge, die brauche ich zum Beispiel nicht mehr.

Bela: Das Negative schreit uns mehr an. Wer hat sich vor Corona denn um Attila Hildmann geschert? Ich glaube aber auch, dass es durchaus positive Veränderungen geben wird. Die Leute gucken kritischer auf ihren Fleischkonsum und kaufen möglicherweise bewusster ein. Sie setzen sich auseinander mit den Belangen ihrer Mitmenschen.

Farin: Sie werden achtsamer …

Viele Verschwörungstheoretiker brauchen vielleicht auch eher einen Arzt, der sie mal psychologisch gründlich untersucht. Oder am besten gleich drei Ärzte …

Farin: Wir sind ja alle drei irgendwie Psychiater. (lacht)

Wohl auch deswegen habt ihr auch immer Nazis etwas entgegenzusetzen gehabt. Kann das bei Verschwörungstheoretikern womöglich auch helfen?

Bela: Es sind ja erstmal gar keine Theoretiker, die beweisen ja nichts, sie behaupten nur. Sie sind Anhänger von Verschwörungen. Und wer sich freiwillig dafür entscheidet, zu glauben, dass es da eine Verschwörung von reichen Menschen gibt, die einen Stoff namens Adrenochrom aus gefolterten kleinen Kindern ziehen … Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll, mit denen zu diskutieren. Keine Ahnung. Es gibt ein paar Antworten in unseren Liedern. In „Liebe gegen Rechts“ zum Beispiel. Man macht die Tür nicht zu, jeder hat das Recht auf Liebe, jeder hat das Recht, zuzugeben, dass er sich geirrt hat.

Liebe ist also die Antwort auf alles?

Bela: Klar! Die Maske, den Stachel im Fleisch des Verschwörungsanhängers, tragen wir hauptsächlich unserem Gegenüber zuliebe, weil es eine Übertragung verhindert. Das allein ist schon ein Akt der Solidarität. Wer das verweigert, muss eben damit klarkommen, dass er ein asoziales Arschloch ist.

Farin: Wer sein ganzes Leben nur ich-bezogen war, dem leuchtet es natürlich nicht ein, dass er jetzt Sachen für andere tun soll, ohne dafür extra gelobt zu werden. Da schimpft er lieber und stürzt sich in Verschwörungstheorien. Ich sehe da wenig ‚common ground‘ für eine Diskussion.

Bela: Das hast du schön gesagt.

Bei den meisten ist also schon in der Kindheit, in der Erziehung und in der Sozialisation irgendwas schiefgelaufen. Wie erklärt ihr euren Kindern, was gerade passiert und was zu tun ist?

Bela: Kinder nehmen das mit den Masken hin, die stellen es nicht infrage, wenn sie von Erwachsenen nicht aufgehetzt werden. Das sind jetzt die Regeln, und Kinder leben ja bewusster nach Regeln als viele Erwachsene. Das ist eine Krankheit, die kannst du kriegen, wenn du die Maske nicht aufsetzt und den Abstand nicht einhältst. Fertig.

Ihr hattet in der Vergangenheit immer mal wieder Songs, die auf dem Index gelandet sind. Schaut man sich heute Texte diverser Deutsch-Rapper an, wirken eure dagegen vergleichsweise harmlos. Glaubt ihr, dass inzwischen mehr durchgewinkt wird oder eine Art Verrohung stattgefunden hat?

Bela: Ich denke, das kann man nicht vergleichen, denn die Deutsch-Rapper kreisen ja nur um sich selbst. Misogyne, homophobe Texte …

Farin: … sogar von Frauen!

Bela: Leider findet da auch viel Antisemitismus statt. Da regt man sich über sehr schlechte Scherze der einen auf, aber dann vertreten ein Kollegah oder Xavier Naidoo zum Beispiel ganz offen antisemitische Haltungen in ihren Texten, das kann man auch nicht mehr verschweigen.

Farin: Wir dagegen sind ja unschuldig auf dem Index gelandet. „Geschwisterliebe“, das immer noch indiziert ist, habe ich geschrieben, als ich 15 war. Da hatte ich noch nicht einmal Sex gehabt, also nicht mit Penetration. (lacht) Das Wort „flachlegen“ hatte ich gerade kennengelernt und fand es super lustig. Heutzutage wird ganz anders getextet. Man versucht, Grenzen auszuloten oder massiv zu überschreiten. Das war bei uns nie Sinn der Sache. Wir haben sogar anders formuliert, um nicht indiziert zu werden.

Bela: Wir haben in ein paar Songs Straftatbestände erfüllt, Dinge gesagt, die verboten sind. Da mussten sie uns indizieren. Beim „Schlaflied“ war es etwas anderes, das war böser Wille, weil man uns auf den Kopf zugesagt hat, wir würden Kindern absichtlich Albträume bescheren. Damit haben wir noch einen draufgesetzt.

Farin: Es gab ein Urteil, mit dem einer Frau das Sorgerecht zugesprochen wurde, weil sie nachweisen konnte, dass ihr Mann dem gemeinsamen Kind das „Schlaflied“ vorgespielt hatte.

Bela: Seelische Grausamkeit. Viele Leute denken ja, dass Die Ärzte allein schon seelische Grausamkeit sind. (lacht)

Es gibt Studien dazu, dass der Mensch sich sein ganzes Leben lang beinahe nie älter als 25 fühlt. Körperlich schon, aber nicht im Kopf. Würdet ihr das unterschreiben? Einige Texte des neuen Albums lassen den Schluss nämlich durchaus zu.

Rod: Ich würde das schon unterschreiben, aber mit dem Zusatz, dass einem im Alter gewisse Dinge auch einfach scheißegal sind. Andere regen sich über Sachen auf, die mir selbst nicht mehr wichtig sind.

Zum Beispiel?

Rod: Zum Beispiel so ein Verschwörungsanhänger.

Früher hättest du mit ihm diskutiert, heute lässt du ihn links liegen?

Rod: Ja klar. Heute würde ich einfach sagen: „Danke fürs Gespräch.“

Farin: Wir haben das Album gestern mal in kleiner Gruppe durchgehört, und da ist mir bei zwei Stücken von mir selbst klar geworden, dass man mir jetzt durchaus vorwerfen könnte, dass ich Berufsjugendlicher bin. Die sind wirklich nicht aus der Sicht eines 56-Jährigen geschrieben. Ich habe mich gefragt, woher das kommt, ich mache das ja nicht absichtlich. Es ist, wie du sagst. Gewisse Dinge haben sich doch nicht geändert. Ich bin hoffentlich ein bisschen weiser geworden, habe ein bisschen mehr Verständnis, ein bisschen mehr Entspanntheit. So einen grundsätzlichen Bock auf Sachen habe ich wie früher.

Über die eigene Endlichkeit macht ihr euch – als Mensch, nicht als Band – bislang keine Gedanken? Die Einschläge im beruflichen und privaten Umfeld kommen ja immer näher irgendwann …

Farin: Als der erste Tod in mein Leben kam, da war ich noch einstellig. Da habe ich begriffen, man kann auch als Kind sterben. Vielleicht hat mich das abgehärtet. Ich will jetzt nicht kaltherzig sagen …

Bela: Doch, doch, kaltherzig. (lacht) Das Gute daran, aus der Punkszene zu kommen, ist, dass es wegen der Drogen die ersten Kollateralschäden schon recht früh gab.

Farin: Achtsamkeit wurde immer eher klein geschrieben. (lacht)

Ihr habt unter anderem an einer Online-Lesung teilgenommen, um Geld für das legendäre und durch die Pandemie nun bedrohte SO36 in Berlin Geld zu sammeln. Wie groß ist die Sorge, die ihr euch um die Kunst- und Kulturszene macht?

Bela: Wir sind tätig in einer Branche, die eh ständig struggled, erst durch illegale Downloads, dann durchs Streaming. Eine Branche, in der sich Musiker neue beziehungsweise andere Verdienstmöglichkeiten suchen, immer mehr live spielen, um über die Runden zu kommen. Das macht uns Sorgen, klar. Jeder für sich und auch mit anderen zusammen haben wir vielen Initiativen geholfen. Aber wir hoffen, dass der Spuk bald vorbei ist.

Wenn der Spuk jetzt von einem Tag auf den anderen tatsächlich vorbei wäre, könntet ihr direkt den Schalter umlegen und euch mit Tausenden Fans in eine ausverkaufte Halle stellen?

Farin: Das kommt vermutlich auf das persönliche Phobie-Level an, aber das wird schnell wieder gehen. Man guckt sich das vermutlich eine Woche lang an, und dann …

Bela: … dann: „Läuft schon, allet jut!“

Rod: Meine größte Angst ist eigentlich, dass der ganze Unterbau, der uns gar nicht betrifft – die kleinen Clubs -, dass es das alles irgendwann nicht mehr gibt. Dass junge Leute damit nicht aufwachsen werden, weil es diese Kultur nicht mehr gibt. Die kleinen Bands, die jetzt ihre Touren absagen müssen, wissen womöglich gar nicht mehr, wo sie spielen sollen im nächsten Jahr, weil es eben die kleinen Läden nicht mehr gibt.

Farin: Aber Kultur wird sich immer wieder bahnbrechen, selbst, wenn es jetzt ein paar Jahre keine Struktur dafür geben wird. Ich glaube nicht, dass das dann für immer so sein wird. Der Kunstschaffende macht das ja aus einem Zwang heraus und will sich darstellen, wenn er zum Beispiel Musiker ist.

Bela: Aber für alle Leute, die für den Betrieb arbeiten, ist das Ganze katastrophal. Unsere Roadies zum Beispiel. Für die geht das Arbeitsjahr erst im März richtig los. Dann sammeln sie die Jobs bis zum Ende des Jahres, um das Geld zu verdienen, das sie fürs Leben, für die Familie brauchen. In dem Moment, wo jemand Hartz IV anmelden muss, ist er nicht mehr geschäftsfähig und irgendwann raus aus dem Job. Das Positive aber in unserem Bereich ist, dass die Leute, die das Ganze seit Jahren durch ihre Gier kaputt machen – große Firmen, legitimierter Schwarzmarkt – dass auch die gerade richtig leiden und teilweise vor der Pleite stehen. Leute, die Fans abziehen wie Viagogo.

Kommen wir an dem Punkt noch mal auf die Tour zurück. Habt ihr nach der langen Pause damit gerechnet, dass eure Konzerte innerhalb von Sekunden ausverkauft sein würden, oder hat euch das überrascht?

Rod: Die Tour war innerhalb von vier Tagen ausverkauft. Oder waren es vier Stunden?

Maximal vier Minuten. Ich würde wirklich eher Sekunden schätzen …

Bela: Die Karten waren save innerhalb von 30 Sekunden ausverkauft. Das war Rekord. Dann haben sie nochmal eine halbe Stunde gebraucht, um die Zusatzgigs ins Netz zu stellen und auch die direkt auszuverkaufen.

Für viele Fans, die leer ausgingen, ein Riesenärgernis.

Farin: Das Problem ist die Informationsasymmetrie. Wir wissen nicht, wie viele Tickets wir theoretisch verkaufen können. Wie viele Leute wollen uns sehen nach der langen Pause? Und die Fans wissen nicht, wie viele Konzerte wir wirklich noch spielen werden, solange wir existieren.

Bela: Wir werden schon noch sehr viel mehr touren. Schlimmer ist es, wenn Leute Tickets für 300 und mehr Euro auf Ebay oder zwielichtigen Portalen kaufen. Die lügen dich an. Da gibt es dann zum Beispiel Innenraumkarten, die nah an der Bühne teurer sind als weiter hinten. Diese Preisunterschiede gibt es bei uns aber nicht. Es sind nur drei, vier Klicks, um das herauszufinden, für die die Leute oft zu faul sind.

Dass die Karten schnell weg sein würden, war aber schon irgendwie klar – zumindest jedem Fan. Euch nicht?

Farin: Ich erzähle jetzt mal, wie es wirklich war: Am Tag, als der Vorverkauf losging, war ich im Studio in Hamburg. Ich brauchte neue Turnschuhe und bin in die Innenstadt gelaufen. Das Studio war ungefähr eine Stunde von dort weg.

Bela: Barfuß?

Farin: Genau. Barfuß durch den Schnee. (lacht) Als ich losgegangen bin, hieß es gerade: Wir gehen gleich in den Vorverkauf. Und dann habe ich die Schuhe gekauft und als ich damit fertig war, habe ich mal angerufen und nachgefragt, wie es so läuft. Da hieß es dann, wir seien ausverkauft. Ich habe gefragt, welches Konzert ausverkauft sei. Aber die ganze Tour war ausverkauft, dabei war ich doch erst vor einer Stunde losgegangen.

Bela: 30 Sekunden, ich sag’s ja!

Farin: Mein Gesprächspartner am Telefon meinte dann, ich könne mir also noch ein paar Socken kaufen. Das war im Oktober. Ich hatte gedacht, wenn wir so im Dezember die Hälfte ausverkauft haben, wäre ich total happy.

Hast du nicht vorhin behauptet, ein unverbesserlicher Optimist zu sein? Wenn du wirklich gedacht hast, der Vorverkauf könnte sich schwieriger gestalten, bist du eher das Gegenteil.

Bela: Das ist definitiv ein Widerspruch. (lacht) Als ich ein Kind war, war die größte Kapazität in Berlin für ein Konzert die Deutschlandhalle mit 5000 Plätzen. Frank Sinatra hat das ausverkauft und Liza Minelli. Sonst niemand. Die größten Bands habe ich im Metropol gesehen, zum Beispiel The Cure, auf dem Höhepunkt ihrer Karriere. 1500 Leute. Erst Jahre später haben wir das geschafft. Das ist wirklich alles so explodiert. Heute verkaufen ehemalige Vorbands von uns die Wuhlheide aus. (Beatsteaks, 17.000 Zuschauer – Anm.d.Red.) Mehrmals. Das Spektakel, das Konzert als solches, ist gewachsen, damit aber auch die Gier und die Ausbeutung der Fans durch Vorverkaufsbörsen. Das hat mir große Sorgen gemacht, da findet meiner Meinung nach gerade eine Gesundung statt. Das nochmal zu den hoffentlich positiven Seiten der derzeitigen Situation.

Spontane Konzert- und Theaterbesuche sind aufgrund von Corona, aber auch schon davor dank des Internets nicht mehr möglich, weil immer nahezu alles weit im Voraus ausverkauft war. Das kann auch nerven …

Farin: Das ist auch meine Argumentation. Dann sagt man mir aber: Du willst also, dass 140.000 Leute zu deinem Konzert kommen, ohne Karte vor der Halle stehen und sich gegenseitig totschlagen? Nein, das will ich natürlich auch nicht. (lacht)

Das will keiner. Sind personalisierte Tickets die passende Antwort auf die Schwarzmarkt-Abzocke?

Bela: Ich wollte mir vor zwei Wochen Tickets für Helge Schneider kaufen. Ich wollte vier Karten haben und dann mal sehen, wer mitkommt. Und ich war bereit, meinen Namen für alle vier einzutragen, aber es mussten vier Namen mit Adresse sein, Geburtsdatum, Fingerabdruck und was weiß ich. Das hat mich schließlich davon abgehalten. Ich verstehe es ja, wir haben auch immer wieder diskutiert, ob wir das machen …

Farin: … weil wir nicht wollen, dass sich Arschlöcher an uns und unseren Fans bereichern.

In dem Fall könnte es vielleicht aber auch mit Corona zu tun gehabt haben, um mögliche Infektionsketten besser nachverfolgen zu können. Im Normalfall sollte es einem einzelnen Käufer doch schon möglich sein, auf seinen Namen zwei oder auch vier Karten zu bekommen?!

Bela: Ja, meiner Meinung nach eben auch. Einige Fans wünschen sich inzwischen, dass wir personalisierte Tickets anbieten, damit der Ausverkauf nicht mehr stattfindet.

Für die Tour 2021 müsst ihr euch darüber ja keine Gedanken mehr machen. Aber vielleicht dann für die darauf folgende – zum 40. Bandjubliäum?

Bela: Wer Die Ärzte kennt, der weiß, dass wir Jubiläen nie dann feiern, wenn sie fallen. Vielleicht touren wir erst wieder zum Tod eines Bandmitglieds. (lacht)

Previous post Popkultur Podcast #13 mit Drangsal
Next post Popkultur Podcast #14 mit Kim Frank