Der Ruhrpott ist Mitte der 70er wenig glamourös. Die Jugend langweilt sich, und so ergreifen zwei Geschwister die Gelegenheit, die sich ihnen bietet, um eine illegale Hinterzimmer-Diskothek zu eröffnen. Mit viel Musik und Drama tanzen sie sich durch die neue RTL+ Miniserie „Disko 76“.
Mit den 1970er-Jahren im Ruhrgebiet verbindet man sicher vieles, aber nicht Glitzer und Glamour der Disko-Ära. Seinerzeit regierte in der Region neben König Fußball die Arbeit an den Stahlöfen oder unter Tage. Seine Freizeit verbrachte man vor der Trinkhalle oder in einer der paar Diskotheken, die der Pott zu bieten hatte. Um eine solche – wenngleich eine fiktive – und deren Entstehungsgeschichte geht es vordergründig in der neuen RTL+ Serie „Disko 76“. Aber eigentlich handeln die sechs Folgen natürlich von den Figuren in und um die Disko herum, ihren Träumen, Wünschen und Hoffnungen zu jener Zeit, die sich von denen heutiger Twens nur marginal unterscheiden.
Wie der Titel schon vermuten lässt, befinden wir uns im Jahr 1976. Schauplatz ist die sonst eher selten für Film und Fernsehen als Kulisse dienende Stadt Bochum. Doro (Luise Aschenbrenner) ist zwar erst 21 Jahre alt, aber bereits einigermaßen unglücklich verheiratet. Ehemann Matthias (Moritz Jahn) wünscht sich Nachwuchs und sieht es gar nicht gern, dass seine Frau als Kindergärtnerin arbeitet.
Frauen im Patriarchat gefangen
Kurzerhand kündigt er für sie den Job – damals durften Ehemänner tatsächlich noch solche Dinge für ihre Frauen entscheiden – und verdonnert sie zum Leben als Hausfrau und hoffentlich bald auch Mutter. Für Doro, die gerade erst ihrem spießigen Elternhaus entflohen ist, fühlt sich das an wie der Regen nach der Traufe. Einzig die heimlichen Ausflüge zu den Partys auf der nahegelegenen US-Air-Base, bei denen die hier stationierten Soldaten zu Funk, Soul und Disco ihre Biere kippen und die Nächte durchtanzen, sorgen für kurze Momente der Freiheit.
Als Doros fahnenflüchtiger Bruder Georg (Jonas Holdenrieder) zurück in die Stadt kommt und nach dem Tod des Onkels dessen Eckkneipe übernimmt, ergibt bald eins das andere. Ein bis dahin verborgener Raum hinter dem altbackenen Tresen kommt per Zufall ans Licht und wird kurzerhand umgestaltet. Doro und Georg eröffnen die offiziell natürlich nicht genehmigte „Disko Bochum“.
Fortan kommen allabendlich Twens aus der gesamten Region hierher, um zu US-Disco-Sounds „das Tanzbein zu schwingen“. Ebenfalls immer häufiger dabei: Dancefloor-Abräumer Robert (Jannik Schürmann), der Doro nicht nur mit seinen Tanzkünsten beeindruckt. Alles könnte so schön sein, wären da nicht Doros Eltern, ihr irgendwann misstrauischer Ehemann und die geheimnisvolle Eva (Natalia Wörner), der das „Panoptikum“ in Düsseldorf gehört und die über die neue Konkurrenz wenig erfreut ist.
Von Boney M bis Led Zeppelin
Zwar schwappte die Disco-Welle eigentlich erst im darauffolgenden Jahr dank „Saturday Night Fever“ mit John Travolta in der Hauptrolle so richtig nach Deutschland über, doch die GIs wussten natürlich schon 1976, was musikalisch in Übersee angesagt war. Dass die seinerzeit nicht einmal in NRW stationiert waren – geschenkt. Zumindest ist der Soundtrack, der nicht nur als solcher fungiert, sondern bisweilen auch die Geschichte erzählt und die Stimmungen der Protagonisten auffängt, das Highlight der Serie. Mit dabei sind Songs von Barry White, James Brown, Diana Ross, Stevie Wonder, KC and the Sunshine Band, Boney M, Penny McLean, Abba, Fleetwood Mac, Van Morrison, Led Zeppelin, ELO, Cream, Iggy Pop und Bob Dylan. Ein Musical ist „Disko 76“ aber trotzdem nicht.
Vielmehr erleben Doro, Georg und ihre Freunde ihre ganz eigenen Coming-of-Age-Geschichten. Während Doro aus der Kleinbürgerlichkeit ihres bisherigen Lebens ausbrechen will, versucht ihre Schwester Johanna (Vanessa Loibl), Pilotin zu werden, was ihr aufgrund patriarchaler Strukturen unmöglich gemacht wird. Georg begleitet seine beste Freundin Alex (Julia Jendrossek) durch eine ungewollte Schwangerschaft, obwohl er selbst mit der Ablehnung des Wehrdienstes genug zu tun hat. Und Robert kämpft mit einer seltsamen wie düsteren Familiengeschichte und seiner DDR-Vergangenheit.
Spaß und Emotionen vor Authentizität
Vieles davon mag plakativ, überdramatisiert und bisweilen sogar unglaubwürdig wirken. Der Fokus des Teams um Head Autorin Linda Brieda beim Schreiben der Drehbücher sowie der Regisseure Florian Knittel und Lars Montag beim Inszenieren lag wohl weniger auf Authentizität. Es lässt sich nämlich auch bemängeln, dass fast niemand „Pott“ spricht und wenn doch, dann nicht gerade überzeugend. Außerdem könnte die Story, abgesehen von einigen wenigen Bildern, die Bochum darstellen sollen, überall in Westdeutschland spielen. Vielmehr stehen die Emotionen und der Spaß bei „Disko 76“ im Vordergrund. Die Musik ist gut ausgewählt, die Tanzszenen sind perfekt choreografiert. Hier machen Jannik Schürmann und seine Tanzpartnerin Elisabeth (Emma Nova) eine wirklich gute (Hebe)Figur.
Nun steht Ostern kurz bevor, und ehe es mit der ganzen Familie spätestens am zweiten Tag entweder langweilig oder streitlustig wird, bietet RTL+ mit „Disko 76“ die perfekte Möglichkeit zur gemeinsamen Zerstreuung. Die generationsübergreifende Mini-Serie unterhält mit ihrer Musikauswahl, der Ausstattung und den Kostümen die Eltern, während einige originelle Inszenierungsideen sowie die jungen Protagonisten die jüngeren Familienmitglieder abholen.