Elbow: „Wir stehen am Abgrund einer Katastrophe“

Elbow: „Wir stehen am Abgrund einer Katastrophe“

Seit Anfang der 90er Jahre machen Elbow gemeinsam Musik. Neun Alben hat die Band aus Manchester bislang veröffentlicht, nun folgt mit „Audio Vertigo“ das zehnte. Und wieder gelingt es Guy Garvey und Co., sich mit ihrem Bombastsound noch einmal neu aufzustellen.

Seit Anfang der 1990er-Jahre machen Elbow bereits gemeinsam Musik. Neun Alben hat die Band aus Manchester bislang veröffentlicht, nun folgt mit „Audio Vertigo“ das zehnte. Und wieder einmal gelingt es Guy Garvey und seinen Mitstreitern, sich mit ihrem Bombastsound – von dem sie mit ihrem Pandemie-Album „Flying Dream 1“ 2021 angesichts der Lage eine kleine Pause einlegten – noch einmal neu aufzustellen.

„Wir haben The Meters, Beastie Boys, Sly and Family Stone, Jimi Hendrix, Arctics, Queens of the Stone Age, Bolan, Tom Waits, Public Enemy und Alison Moyet referenziert, und das ist nur der erste Song“, so Garvey zum bedingt neuen Sound. Mit ntv.de sprach er Anfang März außerdem über das Älterwerden, sein Leben als Vater und seine größten Ängste beim Blick auf die aktuelle Weltlage.

ntv.de: Guy, du wirst morgen 50. Wie geht es dir damit?

Guy Garvey: Das ist richtig, und ich fühle mich ziemlich gut. Das macht doch Spaß, oder nicht? Ich glaube, meine Frau hat eine Überraschung organisiert. Sie setzt mich in einen Zug nach Manchester und ich betrinke mich mit meinen ältesten Freunden. (lacht)

Das klingt, als könnte es genauso gut dein 25. Geburtstag sein. Hat sich in dieser Zeit etwas durchs Älterwerden verändert? Vieles wird schließlich nicht einfacher, das Trinken zum Beispiel.

Allerdings, und ich trinke immer noch viel zu viel. Ich habe gerade heute Morgen mit meinem Arzt darüber gesprochen. Ich sollte damit wirklich mal aufhören. Aber die schönste Sache auf der Welt ist für mich immer noch, mit einem Freund im Pub zu sitzen. Das ist eine magische Sache, aber es ist nicht mehr wie früher, wenn ich jetzt so darüber nachdenke. Es ist anderes, seit ich Vater geworden bin. Ich habe mein ganzes Erwachsenenleben gemacht, was ich wollte, 25 Jahre lang Party. Wirklich. Das ist alles, was ich gemacht habe. Und dann, wenn man Vater ist, muss man das ändern. Aber das ist toll.

Also hat das Vaterwerden was verändert, nicht das Alter selbst?

Genau. Es dreht sich alles um ihn und sein Glück. Und wir verstehen uns, was nicht selbstverständlich ist.

Elbow gehören jetzt also schon mehr als dein halbes Leben zu dir. „Audio Vertigo“ ist euer zehntes Album – noch ein Jubiläum.

Ja, das ist verrückt. Wir haben uns kennengelernt, als ich 16 war. Jetzt werden wir alle 50. Craig ist ein wenig jünger, was mich immer geärgert hat. Und Alex, unser Schlagzeuger, ist noch etwas jünger. Aber ja, wir drei sind 50 geworden und das fällt mit unserem zehnten Album zusammen. Es ist auf eine nette Art und Weise erfreulich. Und wir haben nicht vor aufzuhören. Die Platte hat so viel Spaß gemacht. Ich habe das schon eine Million Mal gesagt, aber es überrascht mich immer noch. Ich komme dem am nächsten, was ich bin, wenn ich Musik schreibe und mich dafür begeistern kann: einem Kind. Ich umarme meine Bandkollegen und tanze wie ein Idiot durch den Raum, wenn wir gemeinsam arbeiten, weil ich es so liebe.

Du veröffentlichst auch solo Sachen, deinen Kollegen haben ebenfalls noch andere Projekte. Wie entscheidet ihr, wann die Zeit reif ist für ein neues Elbow-Album?

Craig zum Beispiel hat ein sehr aufregendes Nebenprojekt, über das ich nicht sprechen darf. Mark hat eine Band, die erstaunlich ist. Ich will immer wieder zügig eine neue Elbow-Platte schreiben und aufnehmen, muss aber immer erst sehen, was die anderen wollen. Und wenn es nicht der richtige Zeitpunkt ist, dann mache ich eben ein Solo-Album. So funktioniert das normalerweise. (lacht)

Wieder einmal ist der Sound auf dem neuen Album anders als bei euren Vorgängerplatten. Vor allem vom 2021 erschienenen „Flying Dream 1“ unterscheidet es sich im Hinblick auf die Stimmung deutlich. Wusstet ihr schon vorher, in welche Richtung ihr gehen wollt?

„Flying Dream 1“ wurde während der Pandemie aufgenommen, und wir hatten alle, in unterschiedlichem Ausmaß, eine ziemlich schwierige Zeit. Also war es eine Art Rettungsinsel, Musik zu machen, wie Liebesbriefe an die Band und von der Band. Es ist textlich wahrscheinlich meine persönlichste Platte, und wir sind alle sehr stolz darauf. Aber als wir wieder zusammenkamen, gab es nur ein einziges Gespräch, das damit endete, dass wir ein großes Heavy-Beat-Album schreiben sollten. Und so haben wir es dann gemacht.

Wer oder was war dafür die Inspiration, falls es eine gab?

Ich weiß, wo ich als Nächstes hin will, und die Jungs haben den nötigen Ansporn. Es war der Talking-Heads-Song „Cities“, der eines Tages im Radio lief, und es war auf einmal so, als würde ich das Stück zum ersten Mal hören. Ich kenne den Song so gut, und liebe Talking Heads schon lange, aber ich fand das in diesem Moment so cool und dachte. „Es ist so einfach, was die da machen. Es ist spontan, es ist lustig und es ist peinlich.“ Und ich sagte zu den anderen: „Lasst uns das als Nächstes machen!“ Die Jungs fanden die Idee toll. Es fühlt sich an, als hätte es eine Menge Hintergedanken dazu gegeben. Aber es kam viel mehr aus der Hüfte.

Eine Art musikalische Rückkehr ins Leben nach der Pandemie?

Genau. Und wir meckern immer über all die Dinge, über die sich jeder Vollidiot aufregt. Doch wir haben uns entschieden, das in die Musik zu packen und dazu Worte zu wählen, die von den Problemen in der Welt ablenken. Die Texte sind witzig, es ist sehr schwarzer Humor, aber witzig.

Wo du die Probleme in der Welt gerade ansprichst … als Vater musst du naturgemäß positiv in die Zukunft blicken. Gelingt dir das?

Es muss mir gelingen. Aber um ehrlich zu sein: Das Einzige, was mich optimistisch stimmt, ist die Geschwindigkeit, mit der alles passiert. Die Spaltung, die weltweit von Menschen gesät wurde, die Geld verdienen oder Macht erlangen wollen … Wir stehen am Abgrund einer absoluten Katastrophe. Wenn man in China, Nordkorea oder Russland lebt, ist diese Katastrophe schon vor langer Zeit eingetreten. Aber sie kommt auf uns alle zu. Wenn wir das Ganze nicht aufhalten, wenn wir der Wahrheit keinen höheren Stellenwert einräumen, wenn wir unsere Kommunikation nicht umgestalten, dann sind wir am Arsch. Die Leute sehen es nicht kommen, bis es an ihre Tür klopft. Wenn Putin nicht zurückgedrängt wird, wenn die Autokraten der Welt nicht sehen, dass die freie Welt zurückdrängt wird, dann wird mein Sohn eines Tages in die Armee eingezogen. Das ist meine größte Angst.

Hast du das Gefühl, dass die Sorgen unserer Generation seinerzeit kleiner waren, sich die weltpolitische Lage also deutlich verschlechtert hat?

Ich erinnere mich, dass ich als junger Teenager mit absoluter Gewissheit glaubte, ich würde in einem nuklearen Holocaust sterben. Und das hat den ganzen Weg durch die Populärkultur geschafft – bis hin zu Filmen und in Songs. Und doch ist es nicht passiert. Jetzt muss ich mich daran erinnern, dass sich etwas, das einem wie eine Unvermeidlichkeit vorkommt, doch noch verschieben, verändern kann. Ich denke, das ist unsere Aufgabe. Es ist mein Job als 50-jähriger Vater, sich daran zu erinnern.

Noch stehen keine Tourdaten für Deutschland fest, aber ich gehe einfach mal davon aus, dass die noch folgen werden. Dann gehört natürlich auch „One Day Like This“ wieder auf die Setlist. Nervt euch die diesbezügliche Erwartungshaltung eurer Fans?

Nein, gar nicht. Nur den Song zu proben, das kann anstrengend sein. Und auch langweilig. Aber wenn wir ihn dann vor Publikum spielen – es ist immer das Ende der Show -, dann ist es die Chance für die Leute, auch mal für uns zu performen. Es ist ein solch schönes Gemeinschaftsding. Als wir das letzte Mal in der O2 Arena in London gespielt haben, gab es 20 Minuten nach Ende des Konzerts ein Social-Media-Video. Auf beiden Seiten des Bahnsteigs standen Leute, die auf dem Konzert waren und nun auf ihren Zug warteten. Und sie sangen noch immer gemeinsam diesen Song und winkten sich über die Gleise hinweg zu. Wir waren in Tränen aufgelöst, weil es wundervoll ist, wenn so etwas passiert.

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