Jethro Tull schreiben ab Ende der 1960er-Jahre Musikgeschichte. Die Briten beeinflussen mit ihrem originären Einsatz der Querflöte das hippieske Rockgeschehen und viele nachfolgende Bands. Und auch heute hat Frontmann und Flötist Ian Anderson nicht nur musikalisch noch etwas zu sagen.
Geboren wird Ian Anderson 1947 in Schottland, ehe es ihn mit elf Jahren mit seinen Eltern ins britische Blackpool verschlägt. Weitere neun Jahre später gründet er gemeinsam mit Freunden die Band Jethro Tull und fungiert seither als deren Frontmann, Songschreiber, Sänger, Gitarrist und Flötist. Mit Alben wie „Aqualung“ – inklusive dem großartigen „Locomotive Breath – und „Thick As A Brick“ beeinflussen Jethro Tull das damalige Musikgeschehen und zahlreiche nachfolgende Bands. Ihr eigenwilliger Sound zwischen Hardrock, Bluesrock und Progressive Rock zeichnet sich dabei nicht nur durch das Querflötenspiel Andersons aus, sondern zudem durch ein anspruchsvolles Songwriting mit vertrackten Strukturen.
Heute ist Ian Anderson 74 Jahre alt, lebt zurückgezogen auf einem alten Landwesen irgendwo in Großbritannien und ist das letzte verbliebene Gründungsmitglied von Jethro Tull. Als dieses schart er immer wieder andere Musiker um sich, um das Projekt am Leben zu erhalten. 2003 erschien das vorerst letzte Album von Jethro Tull, nun legt Anderson noch einmal nach und bringt mit „The Zealot Gene“ (zu Deutsch: „Das Fanaktiker-Gen“) ein weiteres auf den Markt. Mit ntv.de spricht er über dessen langwierigen Entstehungsprozess und das Leben als Rocklegende über 70.
Mr. Anderson, wie geht es Ihnen heute? Das muss man in Zeiten wie diesen ja immer erstmal fragen.
Ian Anderson: Um ehrlich zu sein, geht es mir heute so wie gestern und den Tag davor. Kontinuität ist in meinem Alter alles. Solange ich mich gleich oder besser fühle, ist doch alles gut. Ich bin sehr glücklich darüber.
In der Pandemie geht es wohl Menschen jeden Alters – im besten Falle – so.
Zusätzlich fühle ich mich seit diesen zwei Jahren schon davon bedroht, ernsthaft zu erkranken, was bei Menschen in meinem Alter zu einem echten Problem werden kann. Auch wenn die neuere Variante nicht so gefährlich ist wie Delta, würde ich wohl trotzdem keine Covid-Party besuchen, nur um nach der Genesung nach Australien einreisen zu können.
Da sie aber auch nicht an einem Tennisturnier teilnehmen wollen, ist das vielleicht nicht so schlimm. Oder gibt es da noch späte Pläne?
Seit ich mir vor 25 Jahren das vordere Kreuzband gerissen habe, nicht mehr. (lacht) Physisch ist bei mir ohnehin einiges passiert in all den Jahren. Knöchel, Finger, Handgelenk … ich hatte zahlreiche Verletzungen, die alle auf der Bühne passiert sind. Ich muss wohl akzeptieren, dass ich nun nicht mehr alles tun kann, was ich gern tun würde. Aber da es meinen Alltag nicht beeinflusst, ist das okay. Solange ich noch schnell genug über die viel befahrene Straße komme, um einem nahenden Bus auszuweichen, passt das. (lacht)
Und solange Sie noch auf der Bühne stehen können, schätze ich. Auf eine größere Tour sollte es ja schon 2020 gehen …
Wir hatten im vergangenen Jahr zumindest in Großbritannien einige Gigs. Im Dezember haben wir trotz Omikron dreimal in einer Kirche gespielt und danach waren wir für Weihnachtskonzerte sogar in Italien. Aber in diesem Januar sind wir jetzt wieder in derselben Situation wie ein Jahr zuvor. Wir mussten bereits die Tour in Finnland, die für Anfang März geplant war, verschieben. Zum zweiten Mal.
In Deutschland gibt es leider noch immer ein großes Problem mit Impfverweigerern – was unter anderem auch Konzerte in ihrer alten Form noch für eine längere Zeit unmöglich machen könnte. Wie viel Verständnis haben sie als jemand, dessen Lebensinhalt genau davon abhängt?
Ich glaube, solche Menschen gibt es überall auf der Welt. Deren Position beruht auf Dummheit und Ignoranz sowie dem unsäglichen Wunsch nach Problemen und danach, gegen Regierungen und Regeln ankämpfen zu können. Sie lehnen die Impfungen und das Tragen von Masken ab. Denken wir 40 Jahre zurück, da wollten Menschen wie diese beim Autofahren auch keinen Sicherheitsgurt anlegen. In den 1980ern wollten sie keine Kondome benutzen. Es hat sie immer gegeben. Uns bleibt nur zu hoffen, dass sie irgendwann die Dinge akzeptieren, die wir tun müssen, um das Ganze zu beenden. Und dabei geht es nicht nur um uns selbst, es geht um die Gesellschaft. Ich mag auch keine Nadeln, und das Tragen einer Maske macht mir ebenfalls keinen Spaß, aber das ist nun mal gerade notwendig.ANZEIGE
Reden wir über erfreulichere Dinge als Impfskeptiker. Wann haben Sie mit der Arbeit am neuen Album begonnen? Ich habe gelesen, dass die ersten Songs schon vor der Pandemie fertig waren.
Tatsächlich, das waren sie bereits 2017. Damals habe ich begonnen, ein neues Rockalbum für Jethro Tull zu schreiben. Fünf Tracks haben wir damals sogar schon aufgenommen. 2018 habe ich dann aber erstmal das Projekt „The Strings Quartets“ in den Fokus gerückt. 2019 war ebenfalls ein sehr geschäftiges Jahr. Die Zeit zwischen den einzelnen Tourneen war zu knapp. Wenn alle mal zwei Tage daheim waren, wäre es zu viel gewesen, diese dann auch noch im Studio zu verbringen. Also wollten wir auf eine längere Auszeit warten.
Die kam ja dann – wenn auch anders als gedacht …
Wir hatten diese Auszeit ohnehin für 2020 geplant, Corona kam dann noch dazu. Die übrigen Songs auf „The Zealot Gene“ hatte ich zwar ebenfalls schon 2017 geschrieben, aber aufnehmen konnten wir schließlich dann erst im vergangenen Jahr. Seit Sommer 2021 ist das Album nun fertig. Aber wir wollten es auch auf Vinyl veröffentlichen, und die Wartezeiten in den Presswerken sind gerade extrem lang. Ich habe auch jetzt schon mal Slots für 2023 gebucht – fürs nächste Album, an dem ich gerade zu arbeiten begonnen habe.
Für Fans von Jethro Tull ist Vinyl natürlich unabdingbar. Aber ansonsten hat sich bei der Rezeption von Musik doch einiges getan. Spotify hat vieles verändert. Beziehen Sie das in Ihr Songwriting mit ein?
Das Einzige, das wirklich anders ist als früher: Ich versuche, eine größere Schrift auf den Covern unserer Platten durchzusetzen. (lacht) Man muss ja immer an alle denken, um sie zu erreichen. Deswegen verwende ich die englische Sprache so, dass sie Menschen auf der ganzen Welt verstehen, auch wenn sie dem Englischen nicht ganz so mächtig sind. Aber ich beziehe nicht ins Songwriting mit ein, dass unsere Musik über Spotify gehört wird – im Bus, im Auto, auf dem Weg zur Arbeit, mit Störgeräuschen wie laufenden Motoren oder sprechenden Menschen. Für mich gehört zum Musikhören drumherum Totenstille.
Andererseits sind Streamingdienste eine gute Möglichkeit, neue, jüngere Fans zu generieren. Wie sieht das Publikum bei Jethro-Tull-Konzerten hinsichtlich der Altersstruktur heute aus?
Das ist tatsächlich von Land zu Land sehr unterschiedlich. Und es hängt sogar von der Jahreszeit ab. Spielen wir eine Hallentour in Großbritannien im Winter sind die Leute in ihren 50ern, 60ern oder sogar 70ern. So ist es auch in Deutschland. In Brasilien oder selbst in Italien sind viele Leute deutlich jünger, vor allem, wenn wir dort im Sommer spielen. In der Zeit sehe ich viele Teenager und Menschen in ihren 20ern. Die Alten halten sich dann weiter hinten nahe der Ausgänge und Toiletten auf, während die Jüngeren vor der Bühne stehen.
Interessieren sie sich selbst auch für die jüngere Generation, speziell für das, was sie an neuer Musik hervorbringt?
Nein. Ich höre schon seit den 1970ern keine Musik mehr. Davor – bis ich etwa Mitte 20 war – hatte ich schon so viele musikalische Erfahrungen und Einflüsse gesammelt, dass ich daraus schöpfen konnte – von Blues und Jazz über Rock und Pop bis hin zu Folk und Klassik. Vieles davon war so inspirierend, dass ich nichts Neues mehr brauche. Ich schnappe immer mal wieder neue Sounds auf, das hört man, das kann ich nicht abstreiten. Aber wirklich etwas Großes ist nicht dazugekommen, denn im Grunde ist alles Neue nur eine Reminiszenz an die Dinge, die ich schon damals gehört habe. Ed Sheeran mag viele junge Leute inspirieren, und er ist sicher auch ein talentierter Kerl. Aber ich höre mir seine Musik an und weiß direkt, was als Nächstes passiert in dem Song.
Wie froh schätzen Sie sich, in der damaligen Zeit musikalisch sozialisiert worden zu sein und nicht heute? Ist das Alter also eher ein Geschenk als eine Last?
Als ich Anfang 20 war, habe ich entschieden, Musiker zu werden. Aber die Musiker, die ich damals gehört habe, waren schon in ihren 50ern, 60ern oder sogar älter. Ich bin also mit der Vorstellung aufgewachsen, dass die Musik, die ich mag, von alten Typen gemacht wird. Nun mache ich das, worauf ich zu Beginn gehofft habe, immer noch. Und ich denke nicht an Rente, sondern werde wie ein Cowboy in meinen Stiefeln sterben. Das ist ein Geschenk.