Der Wind pfeift dir eiskalt und schmerzhaft laut um die Ohren. Dein abgewetzter Blaumann bläht sich unter einer Böe auf und lässt dich wie ein betrunkenes Michelinmännchen wankend dagegenhalten. Dein inzwischen spärliches Haar hält dem Ganzen auch nur noch bedingt stand. Nachdem du deinen Werkzeugkoffer zugeklappt hast, ziehst du den Reißverschluss deiner Jacke noch ein Stück höher und lässt dabei deinen Blick gedankenverloren vom Dach aus in Richtung Norden über Ehrenfeld streifen. Du fragst dich wie immer häufiger in letzter Zeit, was du daheim gerade tun würdest, wärst du nicht vor mehr als 20 Jahren hiesiger Zeitrechnung an diesen seltsamen Ort geschickt worden. Längst würdest du wohl deinen wohlverdienten Ruhestand genießen. Stattdessen hast du mit deinem Auftrag auf der Erde zwar rund 80 Lebensjahre wettgemacht, kontrollierst dafür aber Tag ein, Tag aus sämtliche Satellitenschüsseln des Veddels und erstattest vorschriftsmäßig und akribisch Bericht. Informationstechniker – das klingt nach einem wirklich ehrwürdigen Beruf, für den man hier drei Jahre in die Lehre geht. Du weißt es besser, denn was man dort erzählt bekommt, ist nur ein verschwindend geringer Bruchteil dessen, was man dir im Laufe vieler Jahre eurer Zeitrechnung zu diesem Thema beigebracht hat.
Du hast das technische Knowhow, keine Frage. Der zwischenmenschliche Aspekt wurde bei eurer Schulung allerdings nicht berücksichtigt, was dich zu einem einsamen, komischen Kauz verkommen ließ. Keine Freunde, nicht einmal lose Bekannte. Und Verwandtschaft ja ohnehin nicht. Nicht hier. Es ist also wenig verwunderlich, dass du von deinen Nachbarn und Kollegen als „eigentümlich“ beschrieben würdest, stellte man ihnen Fragen nach deiner Person. Aber was wissen die schon? Nichtsnutzige Dummköpfe, ignorant oder naiv. Am Ende bleibt sich das gleich. Und wer sollte auch fragen? Du lächelst milde, während du an all die Menschen denkst, die bis heute glauben, Parabolantennen seien eingeführt worden, um den Empfang Hunderter TV-Sender aus der ganzen Welt in Wohnzimmern rund um den Globus via Satellit zu ermöglichen. Dabei ist das doch nicht mehr als eine kleine, praktische Randerscheinung, die es euch überhaupt erst ermöglicht, die Welt hier erfolgreich zu infiltrieren und zu kontrollieren. Bis jetzt zumindest …
Es piept. In deinem Ohr. Es ist nicht der Wind. Der implantierte Kommunikationschip KXU-745 meldet einen eingehenden Anruf, den du mit einem kurzen, für Außenstehende ummerklichen Nicken annimmst. Du kennst das schon, denn die tägliche Konferenzschaltung mit den Kollegen aus New York, London, Paris, Oslo, Tokio, Auckland und Sydney ist längst zur Routine geworden. Spätestens seit die Situation in Japan außer Kontrolle geriet und man ganz oben – Lichtjahre entfernt und doch ziemlich nah – an euren Fähigkeiten als unfehlbare Special Task Force zu zweifeln begann, ist die tägliche Absprache mit dem auf dem gesamten Erdball eingesetzten Team unumgänglich. Private Schwätzchen finden kaum noch statt, denn die Zeit läuft euch davon. Die Erde und ihre Bewohner sind schon lange dabei, sich selbst zu vernichten, doch scheint dies gerade in der letzten Zeit mit der nicht nur sprichwörtlichen Lichtgeschwindigkeit voran zu gehen. Wird euer Aufenthalt hier bald nicht mehr vonnöten sein? Ist eure Mission bereits gescheitert? Wie lange die Apokalypse noch auf sich warten lässt, vermagst du nicht zu sagen – nicht in Zeiten wie diesen. Während du versuchst, dem Durcheinander in deinem Ohr zu folgen und dich via Telepathie daran zu beteiligen, schweift dein Blick erneut ab, bleibt am Colonius hängen. „Es wäre doch eigentlich schade drum“ – ist das Letzte, was du denkst, als der interstellarische Notalarmempfänger an deinem Werkzeuggürtel beginnt, unaufhaltsam zu vibrieren …
Erschienen in Ehrenfelder #2 / Thema dieser Ausgabe: Utopie