Jan Josef Liefers: „Cancel Culture ist versuchte Selbstjustiz“

Jan Josef Liefers: „Cancel Culture ist versuchte Selbstjustiz“

Für die einen ist „Alter weißer Mann“ eine Tatsachenbeschreibung, für die anderen eine Beleidigung. Und es ist eine neue Kinokomödie mit Jan Josef Liefers, die sich einiger „heikler Themen“ annimmt. Im Interview mit ntv.de erklärt Liefers unter anderem, wie viel von ihm selbst in seiner Rolle steckt.

Nicht erst durch die Causa Thomas Gottschalk hat die Bezeichnung „Alter weißer Mann“ wieder an Brisanz gewonnen. Ihr widmet sich Simon Verhoevens neue Komödie, in der Hauptfigur Heinz aufgrund der seinem Alter geschuldeten Sozialisation in so manches vermeintlich „woke“ Fettnäpfchen tritt. Doch Heinz, anders als viele ältere Herren des öffentlichen Lebens, die mit ihren angestaubten und unverrückbaren Ansichten in die Schlagzeilen geraten, ist lernfähig. Wie sieht es damit aber bei Jan Josef Liefers aus, der diese Rolle verkörpert?

Im Interview mit ntv.de spricht der 60-jährige „Tatort“-Star, männlich, weiß, über das, was er durch die Arbeit an „Alter weißer Mann“ noch gelernt hat, wo er im aktuellen Diskurs die größten Probleme sieht und wie er der angeblichen Cancel Culture gegenübersteht.

ntv.de: Was war Ihr erster Gedanke, als Ihnen die Rolle des „alten weißen Mannes“ angeboten wurde?

Jan Josef Liefers: Es begann mit einem Anruf von Simon (Verhoeven), wir kannten uns bereits und hatten schon einmal zusammengearbeitet. Ich mag seine Filme. Also habe ich mich gefreut, als er anrief. Er sagte: „Hör mal, ich habe da eine Filmidee, ‚Alter weißer Mann‘.“ Mein erster Gedanke war: „Oh je, ist es jetzt so weit? Warum fragt er gerade mich?“ Aber dann hat er mir seine Idee erzählt und mir das Drehbuch in der ersten Fassung geschickt.

Und dann waren Sie direkt interessiert?

Ja, denn es wurde schnell klar, wie es gemeint ist und dass da eine großartige Rolle winkt. Meine Figur heißt Heinz, und er ist eigentlich nicht der typische „alte weiße Mann“. Er möchte gar keiner sein, will sich weiterentwickeln, dazulernen, die neue Zeit verstehen und alles richtig machen. Heinz steht aber im Zentrum eines Kreuzfeuers aus verschiedenen, manchmal extremen Meinungen, zu denen er sich verhalten soll. Das fand ich richtig interessant, weil auch ich mich manchmal so fühle, als würden täglich hundert unsichtbare Hände mich beim Kragen packen, in ihre Richtung ziehen und verlangen: „Du musst jetzt unbedingt sofort das Richtige sagen, machen, tun, musst dich entscheiden, auf welcher Seite du stehst!“ Kaum beginne ich, darüber nachzudenken, packt mich die nächste Hand, schüttelt mich und zerrt mich in die entgegengesetzte Richtung. Bildlich gesprochen und leicht übertrieben, ist mein Heinz in eben dieser Situation. Alles prasselt auf ihn ein, er soll zu jeder neuen Information sofort Stellung bezieht, Konsequenzen ziehen und bloß keinen Fehler machen. Dieser Druck macht ihm zu schaffen. Und wem nicht? Soziale Medien werden auch immer asozialer, der Ton dort immer extremer und das Informationsgewitter überfordert viele. Auf dieser Basis könnten viele Filme entstehen, vom Sozialdrama bis zum Amoklauf, wir haben uns für eine Komödie entschieden.

War für Sie der Humor ein wichtiger Faktor für den Zugang zu den ernsten Themen des Films?

Unbedingt ja! Der Film berührt ja heikle Themen der Gegenwart. Aber er macht sich über niemanden lustig. Im Gegenteil, der Film nimmt Themen auf und verarbeitet sie in einer humorvollen Weise. Humor kann helfen, innere Abwehrmechanismen zu durchbrechen. Wenn man lachen kann, nähert man sich Themen leichter, die man vorher als eher abschreckend empfand. Es geht darum, wie bereit wir Älteren noch sind, uns zu bewegen, und ich denke, unser Film bietet auf lustige und turbulente Weise diesen Gesprächsstoff an, der ansonsten oft als vermint empfundenen wird. Nach dem Lesen des Drehbuchs wusste ich sofort: Den Heinz will ich spielen! Heinz ist eine tolle Rolle, ich mag ihn! Und ich mag es, ihn auf komödiantische Art zu spielen.

Wie haben Sie – vermutlich gemeinschaftlich – Heinz‘ Charakter entwickelt?

Es gibt leider immer tausend verschiedene Möglichkeiten, eine Szene zu spielen oder einen Satz zu sagen. Simon und ich haben uns zwei-, dreimal getroffen und haben rumprobiert. Wäre es gut, wenn Heinz etwas psychopathisch wirkt? Oder wäre es besser für den Film, wenn er gemütlicher rüberkommt? Und so weiter. Da warten unzählige Entscheidungen in so einem Arbeitsprozess. Am Ende landeten wir bei dieser Version von Heinz, mit dem Cordanzug, dem Schnauzbart und der immer etwas lädierten Frisur. Dieser Typ, der alles richtig machen will, aber nicht weiß, wie das geht. Der total überfordert ist, weil er versucht, zwanzig Bälle gleichzeitig zu jonglieren, obwohl er nicht mal drei wirklich hinbekommt.

Gab es noch während der Dreharbeiten Diskussionen zu den Themen des Films? Schließlich kommen am Set in der Regel viele Personen mit unterschiedlichen Ansichten zusammen.

Oh ja, und das war wirklich spannend! Es gab Leseproben, bei denen alle Schauspieler an einem Tisch saßen, und es fühlte sich manchmal an, wie die zentrale Dinner-Szene aus unserem Film, in der quasi ganz Deutschland zusammen Abendbrot ißt. Verschiedene Hautfarben, kulturelle Hintergründe, sexuelle Orientierungen. Wir hatten intensive und sehr respektvolle Diskussionen, in denen wir offen zugaben: „Das verstehe ich jetzt nicht, was meinst du damit? Oder hier bin ich ganz anderer Meinung! Oder den Schuh zieh ich mir nicht an!“ Und dann wurde geredet, erklärt, zugehört und man kam zu einem besseren Verständnis füreinander. Diese Geduld und Intensität waren bemerkenswert. Auch in den Drehpausen setzten sich diese Diskussionen fort. Im Film hört Heinz in einer Szene den Satz: „Check mal deine Privilegien!“ Über den Satz hat durchaus auch Jan Josef dann anders nachgedacht als vorher.

Beim „alten weißen Mann“ geht es eben um eine bestimmte Einstellung, die auf Privilegien beruht.

Genau. Natürlich genießt der weiße Mann, ohne sich dessen bewusst zu sein, allein dadurch Vorteile, dass er in eine männlich und weiß dominierte Welt geboren wurde. Ich selbst habe immer argumentiert, wieso privilegiert? Mir wurde in meinem Leben nichts geschenkt, ich habe hart gearbeitet, mich nie über andere gestellt und so weiter, und ich wüsste nicht, wo ich Privilegien hätte! Aber das sieht eine ebenfalls in Deutschland geborene und aufgewachsene schwarze Frau ganz anders. Sie klärt mich auf: Stell dir vor, wir beide bewerben uns um eine begehrte Wohnung – du weißer Mann und ich schwarze Frau. Ansonsten haben wir ähnlich makellose Referenzen. Wer bekommt wohl die Wohnung? Das ist nicht fair, oder? Nein, das ist nicht fair! Das war jetzt nur ein simples Beispiel. Der ‚alte weiße Mann‘ existierte schon, als ich ein Kind war, er hatte nur einen anderen Namen. Für mich war es der alte Sack im Unterhemd, der stundenlang auf dem Fensterbrett lehnte, mit einer Kippe im Mundwinkel und über alles schimpfte, was sich draußen bewegte.

Sie haben die sozialen Medien erwähnt. Haben diese die Fronten noch mehr verhärtet?

Ich denke schon. Es sind die Algorithmen, die auf Dauer unser Hirn schreddern. Sie sorgen dafür, dass jeder sich für die Mitte der Gesellschaft hält und sich und seine Bubble im Recht sieht. Und weil wir auf negative Emotionen und Gedanken stärker reagieren als auf positive, wird auf Empörung und Aufregung gesetzt. Wir klicken dann zwanghaft dauernd dort, wo negative Gefühle neue Nahrung finden. Als ich jung war, konnte einer, der in einer Kneipenrunde etwas völlig Abwegiges von sich gab, vielleicht damit rechnen, ein Bier ausgegeben zu bekommen, damit er mal in Ruhe darlegt, was er damit meint. Unsere soziale Fähigkeit, Widersprüche und Ambiguität anzuerkennen und auszuhalten, wird durch die Algorithmen auf Dauer untergraben. Aber sogar Widersprüche innerhalb ein und derselben Person kommen ja vor. Es gibt Menschen, die heute etwas richtig machen und morgen etwas Falsches tun. Oder umgekehrt. Wir sind Menschen, Suchende, Irrende.

Aber gibt es tatsächlich eine Cancel Culture in Deutschland oder ist sie nicht nur eine Behauptung derjenigen, die auch meinen, man dürfe heute gar nichts mehr sagen?

René Pfister vom Magazin „Spiegel“ schreibt in seinem Buch „Ein falsches Wort“ darüber, wie eine neue linke Ideologie aus den USA unsere Meinungsfreiheit bedroht. Man hört auch von Professoren, deren Vorlesungen an Unis niedergeschrien wurden. Cancel Culture zielt, wenn ich das richtig verstanden habe, auf die Auslöschung einer Person aus der Öffentlichkeit und kommt einer kollektiven, sozialen Bestrafung gleich. Man möchte der gecancelten Person jegliche Plattform entziehen. Meinungsfreiheit und die Freiheit der Rede sind aber straffreie Grundrechte, solange dabei keine Gesetze verletzt werden. Ich sehe es so: Jeder darf alles frei sagen, auch öffentlich. Dieses Recht ist also gewahrt. Aber das muss auch straffrei möglich sein, sonst ist es keine Freiheit. Und ja, auch der abenteuerlichste Quatsch ist davon geschützt. Der muss dann halt mit Gegenwind rechnen, so entsteht lebendiger Diskurs. Cancel Culture ist nicht mein Ding, denn sie richtet sich gegen die Personen und ist versuchte Selbstjustiz.

Aber was ist, wenn jemand zum Beispiel Witze über Menschen mit Behinderungen macht und das Konsequenzen hat? Ist das nicht doch auch gerechtfertigt?

Das ist eine interessante Frage, was legitim und was legal ist. Gerade im Bereich Humor, der lebt ja auch vom dünnen Eis. Es gibt Witze über Blondinen, über Ostfriesen, über Ossis … Ich denke, dass in einer großen Menschengruppe die Justiz nicht das einzige Kriterium sein kann. Moral und Regeln im Miteinander entstehen unabhängig von Justiz. Es gibt schon Dinge, die sind zwar juristisch nicht strafbar, aber moralisch höchst fragwürdig. Brauchen wir deshalb ein zweites, ein moralisches Strafgericht? Und wer bestraft dann wen? Und auf welcher Grundlage? Moral und Zeitgeist wandeln sich ständig. Das werden wir wohl individuell lösen müssen. Wenn man jemanden doof oder uninteressant und völlig daneben findet, geht man einfach nicht mehr hin. Und vielleicht verzeiht man dann auch irgendwann. Auch mich können manche nicht leiden, die bleiben dann einfach weg.

Haben Sie das Gefühl, dass das besonders nach Ihrer Kritik an den Corona-Maßnahmen der Fall war?

Sie meinen das Video, in dem ich all jenen Medien gedankt habe, die unermüdlich den Alarm oben halten? Dafür gab es einen kurzen Shitstorm und einen langen Candystorm. Es war eine Medienkritik, eine Einmischung in die eigenen Angelegenheiten. Ich habe nicht zu einem Regierungssturz aufgerufen, sondern lediglich etwas kritisiert, das mir wirklich nahe ging: die rund um die Uhr fast chorartige Alarm-Berichterstattung. Ich habe einfach gefragt, ob es wirklich nötig ist, dass wir morgens mit den Infektionszahlen aufwachen und abends mit den Infektionszahlen ins Bett gehen. Oder ob Schulen wirklich geschlossen bleiben mussten. Wir haben einiges an Kollateralschäden angerichtet, das wissen wir heute. Kriegen Sie mal einen Termin bei einem Kinder- und Jugendpsychologen! Oder war es richtig, alte Menschen isoliert sterben zu lassen, ohne dass Nahestehende zu ihnen durften, um ihre Hand zu halten – alles im Namen des Infektionsschutzes? War der negative PCR-Test wirklich immer das Allerwichtigste? Inzwischen räumt sogar unser aller Gesundheitsminister Fehler ein.

Was erhoffen Sie sich für die Zukunft als „alter weißer Mann“?

Ich bin jetzt 60 Jahre alt, und das ist eine Zahl, bei der man schon mal ins Nachdenken kommt. Natürlich mache ich gerne weiter Filme und bin für alles dankbar, was kommt. Aber was mich wirklich interessiert in diesen verbleibenden Jahren, das ist, als Mensch eine Runde weiterzukommen. Ich will nicht irgendwann der alte Sack sein, der aus dem Fenster hängt und über alles meckert. Ich habe tolle Kinder, und ich liebe es, mit ihnen zu diskutieren. Ich werfe manchmal absichtlich ein faules Argument in den Raum und sehe mit Stolz, wie sie dagegen argumentieren und ihre Position stärken. Die Konsumwelt wäre völlig zufrieden, wenn junge Menschen 24 Stunden am Tag auf Tiktok oder Insta unterwegs wären und alles konsumieren würden, was ihnen dort gezeigt wird. Aber das tun die meisten jungen Menschen gar nicht, und ich feiere das! Selbst, wenn ich ihnen mal nicht zustimmen kann. Sie machen sich frei und gestalten aktiv die Welt, in der sie zukünftig leben wollen.

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