Porcupine Tree: „Wir leben gerade in einer Dystopie“

Porcupine Tree: „Wir leben gerade in einer Dystopie“

Vor 13 Jahren veröffentlichten Porcupine Tree ihren vorerst letzten Longplayer. Nun erscheint mit „Closure/Continuation“ ein neues Album, mit dem sie eine Art Comeback feiern. Steve Wilson und Richard Barbieri erklären im Interview mit ntv.de unter anderem, ob sie es selbst auch so empfinden.

13 Jahre ist es her, dass Porcupine Tree mit „The Incident“ ihren vorerst letzten Longplayer veröffentlichten. Und so kann man das nun erscheinende Werk „Closure/Continuation“ durchaus als Comeback-Album der 1987 in Großbritannien gegründeten Band um Mastermind Steven Wilson bezeichnen. Auf ihrer inzwischen elften Platte beweisen die Progressive-Rock-Helden, dass sie es noch immer drauf haben, innovative Rocksongs zu kreieren. Dass sie auch live nichts verlernt haben, wird man dann im Herbst erleben können, wenn sie für drei Termine ihrer ausgedehnten Tour auch nach Berlin, Stuttgart und Oberhausen kommen.

Die Entstehung von „Closure/Continuation“ ist dabei keineswegs lediglich der zweijährigen Pandemie-Pause geschuldet. Die meisten der sieben Songs sind sogar schon deutlich früher älter als Covid, wie Steven Wilson und sein Bandkollege Richard Barbieri ntv.de im Interview erzählen.

ntv.de: 13 Jahre sind im schnelllebigen Musikbusiness eine lange Zeit. Ihr habt zwar alle noch andere Projekte, doch war diese enorme Zeitspanne am Ende nicht doch eher ein Versehen?

Steven Wilson: Wir haben an dem Album tatsächlich schon sehr lange gearbeitet. Es war nicht so, dass wir eine Pause gemacht und uns dann im letzten Jahr für die Produktion wieder zusammengefunden haben. Im Grunde arbeiteten wir seit 2012 immer wieder, wenn auch eher sporadisch an neuen Songs.

Was zog sich dieser Prozess derartig in die Länge?

Wilson: Nun, zunächst einmal braucht es meiner Meinung nach einen guten Grund, um eine neue Platte zu veröffentlichen. Es muss sich um eine Weiterentwicklung des Sounds handeln. Außerdem muss es kompositorisch stark sein, ein echtes Statement. Wozu sollte man sich sonst die Mühe machen? Und ja, wir waren alle in unterschiedliche Dinge wie Solo-Projekte involviert. Mit diesen Erfahrungen sind wir dann zurück zu Porcupine Tree gekommen, damit der Sound wieder frisch klingt, aber gleichzeitig noch immer wie wir. Eben wie Porcupine Tree im Jahr 2022.

Richard Barbieri: Gerade nach „The Incident“, das nicht unbedingt das beste Album war, das wir je gemacht haben. Und auch die Tour dazu war nicht die beste. Wir sind drei unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichen Projekten und Einflüssen. Wir leben unterschiedliche Leben und haben mit unterschiedlichen Musikern gearbeitet, bis wir das Gefühl hatten, mit Porcupine Tree weitermachen zu können.

Dafür müsst ihr drei euch aber schon einig sein …

Barbieri: Erst war Steven noch solo auf Tour und dann kamen die Pandemie und der Lockdown. Das hat zumindest dazu geführt, dass wir uns darauf konzentrieren konnten, das Album fertigzustellen. Also haben uns die Umstände dieses Mal ein bisschen an diesen Punkt gebracht …

Wilson: Ja, der Lockdown ist tatsächlich die simpelste Antwort auf die Frage nach dem richtigen Zeitpunkt. (lacht) Ich weiß nicht, ob wir ohne ihn jetzt hier sitzen oder nicht doch noch immer an dem Album arbeiten würden. Diese Phase aber hat uns die nötige Zeit und die Ruhe gegeben, die Songs fertigzustellen, die wir in den letzten zehn Jahren entwickelt haben.https://www.youtube-nocookie.com/embed/AY148yblJdg?rel=0&showinfo=0

Somit ist die Tour im Herbst auch die erste in dieser Konstellation seit gut zehn Jahren. Gehört ihr inzwischen zu den Bands, die getrennt voneinander reisen und sich nur auf der Bühne noch für den Job begegnen?

Barbieri: Das mag jetzt komisch klingen, aber wir haben tatsächlich jeder einen eigenen Bus. (lacht) Das hat aber eher etwas mit der Produktion, der Größe der Shows und der Anzahl der involvierten Menschen zu tun. Denn trotzdem denke ich, dass wir jetzt mehr zusammenstehen als bei der letzten Tour, als wir alle zusammen mit einem Bus gereist sind.

Wie bei einem alten Ehepaar mit getrennten Schlafzimmern?

Wilson: Vielleicht. Die vielen gemeinsamen Jahre auf Tour haben unser Verständnis für die Eigenarten der anderen gesteigert. Wir könnten alle drei unterschiedlicher nicht sein. Aber eben diese Unterschiede sind es, die Porcupine Tree ausmachen. Dass wir das inzwischen erkannt und verstanden haben, kommt der Band zugute. Wir gehen deutlich entspannter damit um als früher und genießen die Anwesenheit der anderen. Aber klar, es kann auch sein, dass wir uns am Ende der Tour hassen, das kann man vorher natürlich nie wissen. (lacht)

Ihr habt mit euren Texten immer auch auf Missstände hingewiesen, euch sozialkritisch geäußert. Kommt ihr aktuell überhaupt noch hinterher?

Wilson: Wir rutschen aktuell tatsächlich von einer Katastrophe in die nächste. Der Brexit war nur der erste Alptraum. Dann ging es mit Trump-Administration weiter, die eine Menge verändert hat. Dann Covid, nun der Krieg in der Ukraine. Und auch die Musikindustrie selbst hat sich wahnsinnig gewandelt. Als „The Incident“ 2009 erschien, hatte noch niemand von Spotify gehört. Das muss man sich mal vorstellen. Alles hat sich verändert, und nicht alles zum Besseren. Natürlich verarbeite ich das in meinen Songs auf meine Weise. Und ja, meine Texte sind schon immer recht dystopisch. Wir leben gerade in einer Dystopie. Reflektieren die Lyrics das? Ich denke, das ist abhängig vom Rezipienten, aber ich bin schon sehr gespannt auf die Reaktionen der Fans.ANZEIGE

Hat das für euch als Porcupine Tree noch neue Streaming irgendetwas an eurer Arbeit verändert? Macht ihr euch beispielsweise Gedanken darüber, dass viele Menschen heute eher Playlisten und einzelne Songs als ganze Alben hören?

Wilson: Nein. Ich habe nicht mal einen Spotify-Account. (lacht) Wir kommen der Tradition, nach der ein Album eine Reise ist, die man sich von Anfang bis Ende anhört – wie man einen Film schaut oder ein Buch liest. Vielleicht sind wir die letzte Generation, die in dieser Form über Musik denken. Wir sind eben alt, das ist das, was wir machen. Mir fällt es schwer, mein Denken hier umzustellen. Ich mag die Idee, das Album für das Vinyl in zwei Sektionen aufzuteilen beispielsweise.

Barbieri: Im Grunde aber gibt es heute keine Regeln mehr.

Wilson: Ich mag den Umstand, dass es keine Regeln mehr gibt. Max Richter hat ein achtstündiges Album namens „Sleep“ veröffentlicht. Andere Dinge erscheinen, die nicht an ein Album gekoppelt sind. Ich mag auch die Idee, dass Künstler immer wieder Versionen ihrer Songs durch neue ersetzen können. All das liebe ich. Aber wir gehören eben zur Generation, die mit dem Album als Format aufgewachsen ist, und es ist schwer, sich davon zu lösen.

Das müssen eure Fans auch schon mal nicht, denn „Closure/Continuation“ erscheint nicht nur im Streaming, sondern auch auf CD, Vinyl und sogar auf Kassette. Ein Format, das viele jüngere schon gar nicht mehr kennen. Ist das was Nostalgisches, denn der gute Sound kann es ja nicht sein.

Barbieri: Ich denke, das ist eher was für echte Fans. Es ist einfach schön, es zu besitzen.

Wilson: Ja, ich glaube auch, das ist was für Sammler. Und wir sind ja nicht einmal die ersten mit dieser Idee. Selbst AC/DC haben ihr letztes Album auf Kassette auf den Markt gebracht. Die Leute haben wieder Lust auf physische Dinge, aber ein Tape ist schon eher nur für den Besitz, nicht so sehr fürs Hören gedacht.

Hat es euch im Zuge der Digitalisierung gestört, dass viele Menschen eure Songs nur noch als komprimierte Dateien hören und damit die Soundqualität auf der Strecke bleibt? Oder seht ihr eher die Vorteile, wie das Erreichen einer breiteren Masse, die euch noch nicht kennt.

Wilson: Ich finde Letzteres wichtiger. Als ich jung war und Vinyl gekauft habe, war das auch nicht die beste Qualität. Das gibt es nur sehr selten, dass die Umstände daheim denen in im Studio, in denen die Musik entstanden ist, ähnlich sind. Solange die Menschen, die sich dafür wirklich interessieren, die Chance haben, das Ganze in höchster Qualität zu hören, ist es mir egal, was die anderen machen. Das soll jeder für sich entscheiden. Am Ende des Tages ist die Musik wichtig.

Barbieri: Ich selbst höre eigentlich die ganze Zeit MP3, übertrage sie auf meinen alten iPod und höre sie unter anderem in meinem Auto, das nicht gerade über gute Lautsprecher verfügt. (lacht)

Macht euch die kommende Tour noch nervös, das viele Reisen?

Barbiere: Es kann erstmal noch viel passieren. Corona – oder auch eine Eskalation in der Ukraine. Aber wir müssen ja planen. Und es ist für unsere Verhältnisse sogar eine recht kurze Tour, dafür sind die Venues größer. Wir spielen in den USA nur 13 Shows, in Europa ist es ähnlich.

Wilson: Mit der Anzahl kommen wir gut klar. Aber die Locations sind deutlich größer sogar. Das macht es sehr aufregend, zu sehen, wie sehr die Band über die Jahre gewachsen ist. Wir verkaufen heute mehr Tickets als jemals zuvor. Deswegen denke ich, dass wir das schon sehr genießen werden.

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