„Sterben“: Eine dysfunktionale Familie schenkt sich ein

„Sterben“: Eine dysfunktionale Familie schenkt sich ein

Dank Filmen wie „Der letzte Wille“ weiß man, dass Matthias Glasner keine Angst vor der Darstellung von Extremsituationen hat. Für sein autobiografisches Werk „Sterben“ greift er wieder tief in die Schmerzkiste und liefert ein eindringliches Familiendrama ab.

Drehbuchautor und Regisseur Matthias Glasner ist 59 Jahre alt und damit im besten Fall vom eigenen Tod noch weit entfernt. Dennoch befindet er sich in einem Alter, in dem viele immer häufiger mit dem Thema Krankheit und Sterben konfrontiert werden – sei es im Familien- oder im Freundeskreis.

Dieser in seinem Fall schwierigen Phase des Lebens – beide Elternteile starben kurz nacheinander – widmet er sich in seinem neuen Drama, das passenderweise auch gleich den Titel „Sterben“ trägt. Teils autobiografisch setzt sich Glasner mit seiner eigenen Vergangenheit und Gegenwart auseinander und wirft einen schwarzhumorigen wie schmerzhaft-wahrhaftigen Blick mitten hinein in eine dysfunktionale Familie, in der neben dem Tod auch Krankheit, Traumata, Liebe, Sex und Geburt eine Rolle spielen.

Lilly Lunies (Corinna Harfouch) steckt gleich zu Beginn in wirklich beschissenen Schwierigkeiten, doch weder ihr Mann Gerd (Hans-Uwe Bauer) noch ihr Sohn Tom (Lars Eidinger) sind ihr an dem Punkt eine große Hilfe. Gerd leidet an fortschreitender Demenz, verlässt vermehrt unten ohne das Haus und steht bereits mit einem Bein im Pflegeheim. Tom hat schlicht andere Dinge zu tun, als sich um seine Eltern zu kümmern. Zum einen probt er gemeinsam mit seinem besten Freund, dem lebensmüden Komponisten Bernard (Robert Gwisdek) dessen nächstes Werk, an dem dieser immer weiter zu verzweifeln scheint. Zum anderen steht seine Ex-Freundin Liv (Anna Bederke) kurz vor der Geburt ihres ersten Kindes – ihres, nicht seines. Der leibliche Vater des Babys steht bei Tom nicht sehr hoch im Kurs, bei Liv allerdings auch nicht. Und dann ist da auch noch Zahnarzthelferin Ellen Lunies (Lilith Stangenberg), die ihren Schmerz im Rausch ertränkt und sich mit Sex und Affären – aktuell einer mit ihrem verheirateten Chef Sebastian (Roland Zehrfeld) – von eben jenem abzulenken versucht.

Gespräche, die wehtun

Dass sich die gesundheitliche Situation zu Hause immer mehr zuspitzt, macht es schließlich notwendig, dass die Familie, in der keiner den anderen so richtig zu mögen, aber vor allem zu verstehen scheint, zusammenkommt. Spätestens zu Gerds Beerdigung. Eigentlich. Erzählt wird die Geschichte zunächst in den Kapiteln Lilly, Tom und Ellen, was dem Zuschauer ermöglicht, jeden Einzelnen von ihnen überhaupt erst einmal kennenzulernen. Bald wird klar, dass diese Familie keine sehr glücklichen Menschen hervorgebracht hat. Woran das unter anderem liegt, entblättert sich erst allmählich. Vor allem ein so emotional unterkühltes wie inhaltlich intensives Gespräch zwischen Mutter Lilly und Sohn Tom im Angesicht des Todes offenbart den Schmerz, der hier allen in den Knochen steckt. Es liefert Antworten, wirft aber auch noch mehr Fragen auf.

Grundsätzlich sind die Dialoge in „Sterben“ ironisch und pointiert, vieles geht an die Schmerzgrenze und darüber hinaus. Nicht immer fällt es leicht, dabei zuzuschauen, wie sich die agierenden Personen selbst sabotieren, anstatt aus den verfahrenen Situationen einen Ausweg zu finden. Nicht alles davon hat so stattgefunden, aber einiges vermutlich schon, wenngleich Glasner sicherlich vieles überspitzt. Klar ist, dass sich sämtliche Verhältnisse der Familienmitglieder zueinander in Schieflage befinden und dieser Umstand dafür gesorgt hat, dass die inzwischen erwachsenen Kinder an so manch anderer Stelle ebenfalls zwischenmenschliche Defizite aufweisen. Sprachlos, hilflos, bodenlos.

Keine Angst vor Extremsituationen

Dass er keine Angst vor der Darstellung von Extremsituationen hat, bewies Matthias Glasner schon mit Filmen wie „Der freie Wille“ und „Gnade“. „Sterben“ reiht sich hier perfekt ein. Manche Entscheidung mag man nicht nachvollziehen können – zum Beispiel, warum Ellen erst so spät zum ersten Mal persönlich in Erscheinung tritt. Und warum – gerade in ihrem Erzählstrang – vieles beinahe Slapstick-artig überzeichnet ist. Ein wirklich tolles Händchen bewiesen hat Matthias Glasner aber auf jeden Fall mit der Wahl des Ensembles, das perfekt agiert und miteinander interagiert.

Und so ist „Sterben“ absolut zu Recht gleich neunmal für den Deutschen Filmpreis nominiert. Neben Lars Eidinger und Corinna Harfouch als beste Hauptdarstellende ist Glasner für die beste Regie und das beste Drehbuch aufgestellt. Zudem sind Hans-Uwe Bauer und Robert Gwisdek – übrigens der Sohn von Corinna Harfouch – als beste männliche Hauptdarsteller gelistet. Ebenso sind Schnitt und Filmmusik dabei. Mag manch einer angesichts der Laufzeit von drei Stunden vor einem Kinobesuch zurückschrecken, sei ihm gesagt, dass „Sterben“ zwar seine Längen hat, man aber mit einem hochemotionalen, sehr komplexen, ungemein witzigen und wahnsinnig schmerzhaften Drama belohnt wird.

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