1995 steckt die Musikwelt ein wenig zwischen den Stühlen. Auf der einen Seite ist Techno gerade auf dem Vormarsch – bei der siebten Loveparade sind immerhin schon 500.000 Menschen rund um den Kurfürstendamm im elektronischen Glückstaumel, so dass für das Folgejahr einer Ausweichstrecke gesucht werden muss. Auf der anderen Seite hat sich der seit Beginn des Jahrzehnts nach vorn gearbeitete Grunge mit dem Tode Kurt Cobains 1994 recht plötzlich verabschiedet und lässt die rockhungrige Gemeinde ein wenig ratlos zurück.
Einige Musiker machen aus der Situation das Beste, nennen ihren Sound Alternative Rock und setzen dort an, wo der Grunge sein Ende fand. So auch der „Rest“ Nirvanas, der sich 1995 mit Drummer Dave Grohl am Mikrofon als Foo Fighters neu firmiert. Die Franzosen Nicolas Godin und Jean-Benoit Dunckel tun sich zusammen und schreiben bald als Air Musikgeschichte. Und in Berlin startet eine der heute erfolgreichsten deutschen Rockbands ihre Karriere, die Beatsteaks. Die weniger anspruchsvollen Musikhörer feiern aber weiter zu „Be My Lover“ von La Bouche und Scatman Johns „Scatman’s World“. Außerdem: Ballspielverein Borussia 09 e.V. Dortmund wird Deutscher Fußballmeister; Michael Schumacher gewinnt mit Benetton zum zweiten Mal die Formel Eins; Christo und Jeanne-Claude verhüllen den Berliner Reichstag; Österreich, Schweden und Finnland treten der EU bei; der erste Castor-Behälter erreicht Gorleben und Ōmu Shinrikyōs verübt einen Anschlag auf die Tokioter U-Bahn.
Alice in Chains – Alice in Chains
Sie sind wohl eine der letzten verblieben Bands, die auch im Jahr nach Cobains Tod noch unter der Grunge-Flagge musizieren. Zwar schließt sich Sänger Layne Staley im selben Jahr mit Pearl Jam-und Screaming Trees-Kollegen zum Projekt Mad Season zusammen, dennoch bleibt Zeit für ein neues Alice in Chains-Album. Das Cover ziert ein dreibeiniger Hund als Symbol für das eben dritte Album der aus Seattle stammenden Band. In den USA landen Alice in Chains damit wiederholt auf Rang 1 der Verkaufscharts und können dort innerhalb der ersten zwei Monate mehr als zwei Millionen Exemplare absetzen. Eine Tour zum Album gibt es nicht, was hinter vorgehaltener Hand den Drogenproblemen Staleys zugeschrieben wird. Ein wenig glaubt man, dessen Angeschlagenheit in der Stimme zu erkennen, die den schleppenden, teils düsteren Sound von Songs wie „Grind“, „Sludge Factory“ und „Head Creeps“ begleitet.
Garbage – Garbage
In diesen musikalisch unsteten Zeiten sorgen Garbage mit ihrem Debüt für einen positiven Aufschrei – hierzulande zumindest innerhalb eines kleinen Kreises, während die Massen auf der Euro-Dance-Welle ritten. Weltweit verkaufen Garbage mehr als fünf Millionen Exemplare ihres Erstlings, und die ausgekoppelten Nummern „Stupid Girl“, „Only Happy When It Rains“, „Queer“ und „Milk“ entwickelten sich allesamt zu Hitsingles. Shirley Manson versteht es, sich durch provokante Äußerung und ihr durchaus auffälliges Äußeres immer mehr in den Mittelpunkt zu rücken und wird zu einem begehrenswerten Etwas für die männlichen und einem beneidenswerten Etwas für die weiblichen Fans.
Alanis Morissette – Jagged Little Pill
Sie ist gerade mal Anfang 20, da veröffentlicht Alanis Morissette mit „Jagged Little Pill“ ihr bereits drittes Album, das ihren Durchbruch markiert. Nummern wie „You Oughta Know“, „Hand In My Pocket“, „You Learn“, “Head Over Feet“ und „Ironic“ werden alle zu riesigen Hits und machen die außergewöhnliche Brünette weltweit zum Star. Vielfache Platinauszeichnungen sind die Folge, so wie ein Grammy 1996. 1995 ist nicht nur Alanis’ Jahr. Vielmehr wird sie außerdem als die Entdeckung des Jahres gefeiert, die Tür und Tor für viele weitere Künstlerinnen wie Jewel und Avril Lavigne öffnet. An dem „Jagged Little Pill“ mitgearbeitet haben Flea und Dave Navarro von den Red Hot Chili Peppers und Glen Ballard. Zehn Jahre später erscheint dann noch eine Akustik-Version des legendären Longplayers.
Oasis – (What’s The Story) Morning Glory?
Eines der wohl wichtigsten Alben des Britpop/rock, nein, der Musikgeschichte überhaupt, erscheint ebenfalls 1995 und bedeutet einen weiteren Durchbruch. Oasis releasen mit „(What’s the Story) Morning Glory?“ ihr zweites Album und landen mit den ausgekoppelten Nummern „Some Might Say“, „Wonderwall“ und „Don’t Look Back In Anger“ gleich drei absolute Volltreffer. Songs, die sich längst zu alles überstrahlenden Klassikern entwickelt haben. „(What’s the Story) Morning Glory?“ wird zum am schnellsten verkauften Album neben Michael Jacksons „Bad“. Und noch eine Besonderheit gibt es zu verzeichnen: Oasis sind mit diesem Werk erst die zweite britische Band nach Depeche Mode (mit „Faith And Devotion“), die es schafft, sich recht hoch an der Spitze der US-Charts zu positionieren.
Radiohead – The Bends
Das Follow-Up zum 1993 veröffentlichten Debüt Radioheads namens „Pablo Honey“ erscheint im Frühjahr 1995 und markiert nach Oasis und Alanis Morissette auch den endgültigen Durchbruch dieser Band. Den Grundstein hierfür legte sicherlich bereits „Creep“ vom ersten Longplayer, doch sind es schließlich die hymnenartigen, düsteren Songs auf „The Bends“ die Kritiker wie Fans überzeugen. „High And Dry“ ist ein gutes Beispiel hierfür, das einem auch heute noch eine Gänsehaut beschert. Während Radiohead im Rahmen späterer Alben immer experimenteller und elektronischer werden, ist dieses Werk ein druckvolles, hypnotisches Rockalbum, das Radiohead wesentlich prägnanter erscheinen lässt beispielsweise ihre Britpop-Kollegen Suede, die gern als Vergleich herangezogen wurden. „The Bends“ ist für viele der Beleg dafür, dass Radiohead mehr als eine Eintagsfliege sind, was sie bis heute immer wieder eindrucksvoll unter Beweis stellen. 2009 erscheint dann noch mal einen Collector’s Edition, zu der neben einer zweiten CD mit B-Seiten, Live-Aufnahmen und Demo-Versionen eine DVD mit Videos und Live-Mitschnitten gehört.
Red Hot Chili Peppers – One Hot Minute
Die Veröffentlichung ihres sechsten Albums fällt in die Zeit zwischen den beiden erfolgreichen Longplayern „Blood Sugar Sex Magik“ (1991) und „Californication“ (1999). Nach dem Ausstieg von Gitarrist John Frusciante, der dem Erfolg der Band nicht gewachsen ist, dauert es eine Weile, bis Jane’s Addictions Dave Navarro schließlich 1993 seinen Job übernimmt. Damit ist „One Hot Minute“ das erste Album, das mit Navarro an der Gitarre entsteht, was deutlich zu hören ist. Dennoch zählt es nicht unbedingt zu den erfolgreichsten Werken der Kalifornier. Verantwortlich machte die Band selbst hierfür das damals wenig zufriedenstellende Songwriting, das Navarros Abneigung gegenüber Jam Sessions und seiner Vorliebe für Drogen geschuldet war. Aber auch Frontmann Anthony Kiedis hatte aufgrund seiner wieder aufgeflammten Heroinabhängigkeit seinerzeit andere Sorgen. So blieb das Songwriting zu großen Teilen an Bassist Flea hängen. Die Ballade „My Friends“ wird als Single ausgekoppelt und findet sich alsbald auf Platz 1 der Billboard-Charts wieder. So ganz anders und die musikalische Gegensätzlichkeit der Band unterstreichend ist der Song „Warped“, eine der härtesten Nummern der RHCP überhaupt.
Sonic Youth – Washing Machine
Geht es 1992 bei Sonic Youth noch „Dirty“ zu, schmeißen sie drei Jahre später die „Washing Machine“ an. Zu diesem Zeitpunkt gelten die New Yorker schon lange als eine der einflussreichsten Noise Rock-Bands überhaupt. Und während andere Kollegen längst an ihre musikalischen und persönlichen Grenzen gestoßen sind, gelingt dem Quartett auch nach 14-jähriger Bandgeschichte und acht vorangegangenen Longplayern einmal mehr ein bissiges, ironisches, zügelloses und fesselndes Album. Es ist einen Art Abgesang auf die konventionelle Post-Nirvana-Ära und verspottet vieles, was andere Rockbands bis dahin verfolgen. Eingängige Hooks sucht man hier vergeblich, und mit „The Diamond Sea“ präsentieren sie ein schleppendes, düsteres, 19:35 Minuten andauerndes Stück. Für „Little Troube Girl“ holte man Kim Gordon, Kim Deal (Breeders/Pixies), Lorette Velvette und Melissa Dunn gemeinsam ans Mikrofon.
Smashing Pumpkins – Mellon Collie And The Infinite Sadness
Was wären die 90er-Jahre nur ohne die derzeit wieder tourenden Smashing Pumpkins? 1995 erschien mit „Mellon Collie And The Infinite Sadness“ ihr drittes Studioalbum. Mit 28 Songs und mehr als zwei Stunden Spielzeit schon aufgrund des Umfangs eine Besonderheit. Aber auch die Vielfalt der präsentierten Stücke macht das Album zu einem der herausragendsten seiner Zeit. Der Mix aus wütenden Rock- bis Metalgitarren und melancholischen bis barocken Melodien in zwei Teilen – genannt „Dawn To Dusk“ und „Twilight To Starlight“ – repräsentiert den Ablauf eines Tages. Weltweit verkauft sich das Werk rund 16 Millionen Mal und ist damit nicht nur das abwechslungsreichste, sondern auch eines der kommerziell erfolgreichsten der Band um Sänger Billy Corgan. „Tonight, Tonight“, „Bullet With Butterfly Wings“ und „1979“ sind wahre Perlen ihres Outputs, die bis heute auf eine ganz besondere Art berühren. Nicht ohne Grund wurde „MCIS“ für stolze sieben Grammys nominiert, gewann am Ende allerdings lediglich einen in der Kategorie Best Hard Rock Performance with Vocals für „Bullet With Butterfly Wings“. Die Tour zum Album wurde dann durch ein trauriges Ereignis überschattet, wurde beim Konzert in Dublin doch ein Fan zu Tode gequetscht. Bei einem anderen Konzert wurden Jonathan Melvoin, und Jimmy Chamberlin mit einer Überdosis Heroin aufgefunden. Melvoin starb, Chamberlin überlebte, wurde aber der Band verwiesen. Corgan erklärte im Anschluss an diese Vorfälle, dass „MCIS“ das letzte richtige Rockalbum der Band gewesen und Rockmusik ohnehin tot sei.
Björk – Post
Neben Alice in Chains, Alanis Morissette und den Smashing Pumpkins veröffentlicht auch Islands bekannteste, damals 29-jährige Popelfe 1995 ihr drittes Soloalbum, sofern man das 1977 erschienene „Björk“ dazuzählen mag. Die ehemalige Sugarcubes-Sängerin führt mit „Post“ musikalisch und stilistisch die mit „Debut“ gesetzte Björk-Tradition fort. Frau Guðmundsdóttir, seit jeher für experimentelle Sounds und Konzepte bekannt, widmet sich mehr und mehr elektronischen Klängen, die sie als Elemente so bewusst und geschickt einsetzt, wie bis dato nur wenige Künstler. So gibt sie dem schon rollenden Electronica-Stein mit „Army Of Me“, „Hyper-Ballad“ und „Isobel“ noch zusätzlich Schwung. Gegensätzlich dazu verhält sich „It’s Oh So Quiet“, die rein akustisch eingespielte Coverversion von Betty Huttons „Blow A Fuse“. An der Produktion von „Post“ mitgewirkt haben – teils unüberhörbar – Nellee Hooper, Tricky, Graham Massey von 808 State und Howie B.
No Doubt – Tragic Kingdom
No Doubt haben Ska salonfähig gemacht, wenngleich in Kombination mit Punk- und New Wave-, später auch Pop-Einflüssen. Mit ihrem dritten Album, das auf das 1992 releaste „No Doubt“ und das selbst produzierte „The Beacon Street Collection“ folgt, gelingt der kalifornischen Band um Sängerin Gwen Stefani 1995 endlich der Durchbruch. Im Verlaufe zweier Jahre und in ganzen elf Studios werden die 14 Tracks des Longplayers gemeinsam mit Produzent Matthew Wilder aufgenommen. Ihr Label Interscope lehnt „Tragic Kingdom“ nach dem eher mäßigen Erfolg des Debüts zunächst ab, doch soll sich das Zusammentreffen mit Paul Palmer, der schon für Bush arbeitete, bald als Glücksfall outen. Der Mann mischt das neue Werk nicht nur ab, sondern nimmt die Band auch noch bei seinem eigenen Label Trauma Records unter Vertrag. Auch Interscope lenkt ein, nachdem sich „The Beacon Streat Collection“ unerwartet gut verkauft. Es folgen zwei Grammy-Nominierungen und millionenfache „Tragic Kingdom“-Verkäufe, für Gwen eine Ehe mit Bush-Frontman Gavin Rosdale, zwei Söhne und eine mehr, mal weniger aktive Solokarriere.