Für seine Rolle in „The Whale“ kann Brendan Fraser einen Oscar als bester Hauptdarsteller einstreichen. Zu Recht, denn seine Performance sowie die Geschichte des übergewichtigen Charlie gehen dank ihm ans Herz. Statt düsterer Groteske liefert Darren Aronofsky damit ein hochemotionales Drama ab.
Eins gleich vorweg: „The Whale“ ist nichts für Menschen, die nah am Wasser gebaut sind, aber ungern in der Öffentlichkeit heulen. Wer auch nur einen Funken Empathie in sich trägt, kommt ohne Taschentuch vermutlich nicht aus. Ansehen sollte man sich den neuen Film von Darren Aronofsky aber unbedingt trotzdem, denn er gehört zum Besten, was Hollywood bisher in diesem Jahr zu bieten hat.
Aronofsky ist mit Filmen wie „Requiem For A Dream“, „Black Swan“ und „Mother!“ für eher verstörende, düstere Stoffe bekannt, und hier schien ein Film über einen fast 300 Kilogramm schweren Mann auf dem Papier schon mal gut ins Bild zu passen. Dass „The Whale“ jedoch alles andere als eine schräge Groteske ist, dürfte manch einen seiner Fans überraschen.
Stattdessen erzählt das kammerspielartige Drama von einem einsamen Mann, dessen Herz proportional gesehen ähnlich groß ist wie sein Körper. Selten hat eine Figur den Zuschauer so berührt wie Charlie, der fantastisch gespielt wird von Brendan Fraser. Auch dessen Besetzung ist womöglich erstmal eine Überraschung, und doch ist der Schauspieler, der in den 90ern unter anderem als „George – der aus dem Dschungel kam“ bekannt wurde, die perfekte Wahl – oder auch: der perfekte Wal. Ein Comeback, wie es sich Hollywood nicht besser ausdenken könnte.
Theater fürs Kino
„The Whale“ basiert auf einem zehn Jahre alten Theaterstück von Samuel D. Hunter, der nun auch für das Buch zur Filmadaption verantwortlich zeichnet. Regisseur Aronofsky setzt für die Umsetzung auf das heute eher ungewohnte Format 4:3 und lässt die Geschichte – dem Theaterstück gleich – lediglich im Haus des Protagonisten spielen, dessen Radius aus den gegebenen Umständen heraus schließlich auch nicht größer ist.
Charlie (Brendan Fraser) hat vor acht Jahren Frau und Kind verlassen, um den Rest seines Lebens mit einem Mann verbringen zu können. Dass den beiden dafür nicht mehr viel Zeit blieb, konnte Charlie nicht ahnen. Nach dem Tod seines Partners stürzte ihn die Trauer in ein emotionales Tief, aus dem er ebenso wenig herauskommt wie aus seinem Sofa, geschweige denn seinem Haus. Denn Charlie hat seinen Schmerz mit Essen kompensiert und bringt es inzwischen auf stolze 270 Kilogramm. Die machen jede Bewegung zur Qual. Nur mit einem Rollator kann er überhaupt noch aufstehen. Jeder Toilettengang ist eine Herausforderung, von der Körperpflege ganz zu schweigen.
Doch vor allem sein Bluthochdruck könnte Charlie bald den Garaus machen. Den Kampf dagegen sowie gegen sein massives Übergewicht hat er längst aufgegeben. Und so gibt es auch Momente, in denen man ihn dabei beobachtet, wie er sich aus einer übervollen Schublade einen Schokoriegel nach dem anderen in den Mund schiebt oder mehrfach übereinander gestapelte Pizza-Slices geradezu wegatmet.
Emotionaler Abschied auf Raten
Den einzigen persönlichen Kontakt hat Charlie zu Krankenschwester Liz (Hong Chau), die Schwester seines verstorbenen Freunds, die ihn täglich besucht, ihn hegt, pflegt und ihm gut zuredet. Ansonsten gibt der Englischprofessor seine Schreibkurse nur noch virtuell, versteckt sich hinter einer angeblich defekten Computerkamera und dem daraus resultierenden Schwarzbild.
Charlie ahnt, dass ihm sein Zustand nicht mehr viel Zeit lässt und möchte die Verbindung zu seiner inzwischen 17-jährigen Tochter Elli (Sadie Sink) wiederherstellen. Die zwei haben sich entfremdet, sie hat ihm seinen Fortgang nie verziehen. Charlie ist es ein Anliegen, sie um Verzeihung zu bitten und in eine bessere und sichere Zukunft zu entlassen. Und so taucht auch Ex-Frau Mary (Samantha Morton) wieder in Charlies Leben auf, das zusätzlich vom vermeintlichen Kirchenanhänger Thomas (Ty Simpkins) „gestört“ wird. Wie wenig Zeit Charlie dafür wirklich bleibt, lässt sich erahnen, teilt sich der Film doch in nur nach Wochentagen benannte Kapitel auf.
Mitreißende Performances
Man schaut in „The Whale“ einem absolut liebenswürdigen, stark übergewichtigen Mann dabei zu, wie er für seine Tochter um einen Rest Würde kämpft, während er sie für sich selbst eigentlich längst aufgegeben hat. Voyeurismus, Mitgefühl, Hoffnung und Verzweiflung wechseln sich im Betrachter nicht nur ab, sie führen fast zwei Stunden lang eine Koexistenz.
Neben der zu Recht mit einem Oscar prämierten Performance von Fraser ist es Hong Chau, die aus jeder Pore Angst und Verzweiflung hinsichtlich Charlies Situation versprüht und dabei zutiefst menschlich und empathisch handelt. All das macht „The Whale“ zu einem Muss für Filmfans, die keine Angst vor emotionaler Tiefe haben und gern etwas Gehaltvolles sehen wollen. Dem beeindruckenden Spiel von Fraser zu folgen und Charlies Achterbahnfahrt der Gefühle mit ihm zu durchleben, ist ein schmerzvolles Vergnügen.