Bekannt wird Tom Neuwirth durch den Sieg beim ESC 2014 als Conchita Wurst. Im Folgenden wechselt er nicht nur mehrfach seinen Look, sondern auch seinen Namen, seine Geschlechteridentität und seinen Musikstil. Mit n-tv.de hat er über den Wandel und sein neues Album gesprochen.
2014 gewinnt mit Conchita Wurst eine Sängerin den Eurovision Song Contest in Kopenhagen, wie es sie bisher so noch nicht gegeben hat. In güldener Robe, mit langem Haar und Vollbart performt sie die Hymne „Rise Like A Phoenix“ und kann Fans des Eurovision Songcontests (ESC) weltweit begeistern. Seither ist sie fester Bestandteil der Klatschspalten, wenngleich – oder eben weil – sich ihr Look und ihre Geschlechteridentität seit damals immer wieder geändert haben.
Als Thomas Neuwirth in Österreich geboren, möchte sie inzwischen wieder als „Er“ bezeichnet und nur noch Wurst genannt werden. Unter diesem Namen erscheint mit „Truth Over Magnitude“ nun auch das dritte Album des Sängers, der zuvor eher als singende Drag Queen performte. Mit seinem 2018 erfolgten Outing als HIV-positiv geriet Wurst einmal mehr in die Schlagzeilen und wurde von vielen für seinen Mut und seine Offenheit gelobt. Auch er selbst sieht sich keinesfalls als Opfer. Vielmehr gehöre er zu den Beschenkten, wie er im Interview mit n-tv.de erzählt. Und er erklärt auch, warum Heidi Klum in seinen Augen durchaus die Berechtigung hat, an der Seite von ihm und Bill Kaulitz ausgerechnet eine Show für Drag Queens zu moderieren.
n-tv.de: Du hast dich mir eben als Tom vorgestellt, dein Album erscheint unter dem Namen Wurst, eine ganze Zeit lang warst du Conchita oder auch Conchita Wurst. Ist das abhängig von deiner Tagesform oder eher vom jeweiligen Lebensabschnitt?
Wurst: Man kann sich bei mir echt auf nichts verlassen, oder? (lacht) Ich gerate immer wieder in die Versuchung, mich zu erklären, wenn ich diese Frage gestellt bekomme, und ich möchte natürlich eine gute Antwort darauf geben, damit alle zufrieden sind. Aber ich fürchte, diese Antwort gibt es nicht. Es gibt Momente, da ist Conchita angebracht. Dann gibt es Momente, da würde ich mich nicht Conchita nennen. Es gibt es keine Regel. Wenn du Conchita schreibst, ist es genauso richtig, als wenn du Wurst oder Tom schreibst.
Am Ende ist es Wurst – ein doppeldeutiger Satz irgendwie. Zumindest erscheint dein Album „Truth Over Magnitude“ unter diesem Namen, der weitaus weniger glamourös ist als der Titel, die Musik oder auch du selbst.
Tatsächlich war Wurst eine Sekundenentscheidung. Ich bin ein visueller Mensch, und wir wussten, dass „Trash All The Glam“ die erste Single sein würde. Ich habe das Video vor mir gesehen und wusste, dass ich die Rolltreppe runterfahre und dort wie ein Exit-Schild „Wurst“ stehen muss. Plötzlich war alles klar. Absurderweise, rückblickend, fasst mich Conchita Wurst perfekt zusammen. Ich habe eine Seite, die ist sehr glamourös, poliert, freundlich, höflich und bedacht. Und dann habe ich eine Seite, die ist irrational, vom Ego zerfressen. Ich kann furchtbar sein zu den Menschen, die ich liebe. Derb.
Das ist dann die Wurst-Seite?
Das ist die Wurst-Seite. Ich habe damit begonnen, das zu separieren. Als Conchita die Präsidentengattin zu sein und nach dem Protokoll zu leben, das ich mir ausgedacht habe. Dadurch habe ich mich total reduziert. Das habe ich nun verstanden. Jetzt schöpfe ich alles aus, was ich habe. Wenn ich Lust drauf habe, bin ich hyperfeminin, was auch immer das bedeutet. Oder ich bin eben maskulin.
Wie reagieren anderen Menschen auf dich? Bist du aufgrund dieser Charakterzüge auch schon mal Anfeindungen ausgesetzt?
Ich bin ein absolutes Glückskind, ich hatte eine tolle Kindheit. Teenager waren wir alle mal, das ist schwierig, egal ob man eine Zahnspange trägt oder schwul ist. Irgendwas wird immer gefunden. Ich hatte bisher keine traumatisierenden Begegnungen mit Menschen. Somit kann ich nicht authentisch davon sprechen, was es bedeutet, sich bedroht zu fühlen, denn das musste ich noch nie erfahren.
Du hast dein Album übersetzt „Wahrheit vor Größe“ genannt. Ist das eine Art Lebensmotto? Dein Mantra?
Das ist etwas, das ich lernen musste oder auch immer noch lerne. Mein eigenes Ego ein bisschen dosieren zu können, ein bisschen sensibler zu sein – mit mir auch. Ich habe als bärtige Drag Queen den ESC gewonnen und mir auf die Brust geheftet, das Individualismus großartig ist. Ich bin oft in die Situation gekommen, dass ich dachte, warum ich mir eigentlich selbst nicht zuhöre. Warum setze ich nicht um, was ich sage? Warum interessiert es mich doch so sehr, was andere über mich sagen? Und ich glaube, das habe ich die vergangenen eineinhalb Jahre gelernt und es zu einem Großteil abgebaut. Das liebe ich, kompromisslos ich selbst zu sein. Jetzt noch mehr als zuvor. Und das ist auch dieses Album. Hätte ich es selber schreiben können, hätte ich es getan.
Auch hier bist du ehrlicher als viele andere, die behaupten, ihre Musik im Alleingang zu machen.
Ich habe mich mit den talentiertesten Menschen in meiner Umgebung zusammengetan, das sind Eva Klampfer und Albin Janoska. Sie hat die Texte und Melodien geschrieben und er hat das Album produziert. Das war so befreiend und so schön. Eva weiß viel mehr über mich, als sie jemals wollte.
Du hast ihr also – wie einer Therapeutin – von dir, deinem Leben, deinen Themen erzählt, und sie hat das dann in Songform gebracht?
Es war wirklich ein bisschen wie eine Therapiesitzung. Wir haben über die Welt gesprochen, wie wir Dinge sehen, die mir passiert sind, wie ich das fühle, wie ich das formuliere. Für mich war es menschlich unglaublich spannend, aber auch die Art, wie sie arbeitet.
Du hast bislang glamouröse Popmusik gemacht, „Truth Over Magnitude“ ist eindeutig elektronischer. Warum bist du diesen Schritt gegangen?
Meine musikalische Erziehung reicht von Celine Dion bis Björk. Ich wollte immer Celine Dion sein und habe das in meiner Welt ein bisschen erreicht. Dann habe ich gedacht: Warum mache ich nicht die Musik, die ich auch privat höre? Und somit war die Entscheidung des Musikstils schon vorher da. Ich wollte, dass es näher an dem ist, was ich privat konsumiere.
Welche anderen Künstler sind das, was hat dich diesbezüglich beeinflusst?
Ein bisschen Robyn, ein bisschen Moloko, kurz angerissen auch ein bisschen Massive Attack … Das in etwa war das Mood Board. Was ich total cool fand, was Albin gemacht hat: Ich nehme in einer unregelmäßigen Regelmäßigkeit Dinge auf mit meinem Laptop, die mir so einfallen. Echo, Hall, ich singe und schreie da irgendwas rein. Das habe ich ihm alles gegeben und er hat meine Stimm-Samples geswitcht, gepitcht und trallala. So entstand ein besonderer Sound.
Du warst also quasi dein eigenes Instrument?
Geil, das übernehme ich. (lacht)
Du erfindest dich ja gerne neu. Hast du irgendwann – jetzt zum Beispiel – auch mal das Gefühl, angekommen zu sein?
Ich bin jetzt schon wieder gelangweilt von mir. Was könnte ich denn jetzt machen? Ich habe auch in der näheren Vergangenheit mal wieder viel Neues machen können, das hat mich schon sehr inspiriert. Ich bin gespannt, wie sich das weiterentwickelt.
Sprechen wir doch mal darüber. Du moderierst an der Seite von Heidi Klum und Bill Kaulitz die Prosieben-Show „Queen of the Drags“. Hast du die Kritik der LGBTQ-Gemeinde an der Entscheidung, Klum in die Jury zu setzen, verstanden?
Ich kann verstehen, dass es auf den ersten Blick irritiert. Ich war aber auch sehr überrascht, weil das für unsere Community entlarvend war, die selbst doch immer so auf Integration pocht. Ich fand das schade und musste mir das Problem selbst erstmal erklären lassen. Ich finde, Heidi hat absolut die Berechtigung, in einer Jury zu sein, die Entertainment beurteilt. Das kann sie. Sie ist lange genug in diesem Business.
Und mit Heidi Klum in der Jury erreicht man womöglich auch mehr Menschen außerhalb des LGBTQ-Kosmos. Glaubst du, dass eine solche Show auf diese Weise Türen öffnen kann?
Ich hoffe es. Natürlich, weil Heidi ist ein Multiplikator für ein Format, das es so im deutschsprachigen Raum noch nicht gab. Ich möchte eine tolle Show haben, tolle Peformances sehen, aber ich meine auch, dass diese Show das Potenzial hat, Menschen zu zeigen, die liebenswert sind, und damit Herzen öffnet. Das wäre mir das Wichtigste. Mir geht es gar nicht darum, dass irgendjemand etwas versteht oder plötzlich toll findet, sondern dass er sieht, dass wir alle nur Menschen sind. Wir haben alle die gleichen Probleme, die gleichen Unsicherheiten. Hören wir doch endlich auf, uns auseinanderzudividieren.