Kippen für mehr Gesprächskultur

Kippen für mehr Gesprächskultur

Mittlerweile ist es um die deutsche TV-Landschaft so schlecht bestellt, dass sich nicht mehr nur die Zuschauer, sondern auch die Protagonisten vor laufenden Kameras besaufen müssen. Der Plan: sich gesellschaftlich mehr oder weniger relevanten Themen auf eine andere Weise zu nähern als sonst öffentlich üblich.

Das ist mit der Tele 5-Anarchie-Show „Der Klügere kippt nach“ tatsächlich gelungen, denn der gastgebende Unterhaltungszombie Hugo Egon Balder, sein untoter Stammgast Hella von Sinnen oder auch die singende Kohl-Parodie Bernhard Brink begaben sich auf das Niveau des Kneipenpöbels. Das kommt gut an, sofern auch auf dem Sofa daheim ordentlich gebechert wird. Dachte man, das Niveau im deutschen Fernsehen könne auch durch öffentliche Alkoholgelage kaum noch tiefer sinken, wurde man eines Besseren belehrt.

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Dabei ist es beruhigend zu beobachten, dass nicht nur man selbst und sein missratener Freundeskreis an den Wochenenden nach dem Genuss alkoholischer Getränke am Tresen bald jede Scham verliert, sondern es offenbar auch anderen Menschen so geht. Die Vorstellung aber, dass man nach zwei Drinks ähnlich laut und aufdringlich rüberkommt wie Frau von Sinnen (nüchtern), sich dabei aber charmant und witzig findet, dürfte manchem den Genuss seines letzten Drinks verleidet haben. Hier bekommt der Säufer einen Spiegel vorgehalten, der nur wenig Gutes zeigt. Versprochen wurde beste Unterhaltung in „lockerer“ Stimmung, geboten dann aber doch nur gelallte Peinlichkeiten, wie wir sie alle kennen. Nur würden das Gros von uns sich dabei nicht auch noch filmen lassen. Nicht ohne Grund herrscht in vielen Clubs und Bars absolutes Film- und Fotoverbot.

Wer kennt es nicht, das am Abend als total witzig empfundene, schnell bei Facebook mit einem vermeintlichen lockeren Spruch (nicht selten voller Tippfehler) hochgeladene Foto, das einem am Folgetag nach dem Aufwachen mit zahlreichen Kommentaren um die Ohren gehauen wird? Da kommt jedes Löschen meist zu spät, das Kind ist längst ins Weinfass gefallen. Dieses Gefühl dürfte sich nach dem Schauen einer einstündigen Sendung, in deren Verlauf die deutliche Aussprache und der Sinngehalt des Gesagten ab-, Lautstärke und Pöbelfaktor aber zunehmen, um ein Vielfaches schlimmer sein. Das eigentlich Traurige daran ist, dass es oft Alkohol benötigt, um ein Gespräch in Gang zu bringen, das am Ende dann doch nur in eine hirnrissige Debatte ausartet, weil dann doch alle nur noch aneinander vorbei quatschen.

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