„Titane“: Heißes Blech, nackte Brüste und rohe Gewalt

„Titane“: Heißes Blech, nackte Brüste und rohe Gewalt

„Titane“ ist ein Film, in dem nicht nur Köpfe gespalten werden. Auch spaltet er die Zuschauer in jene, die in ihm feministische Kunst sehen und die, die den Gewaltexzessen nur wenig abgewinnen können. „Titane“ ist nichts für Zartbesaitete und doch irgendwie sehenswert.

Wer sich – womöglich nach dem Lesen dieser Kritik – dazu entschließt, „Titane“ im Kino anzuschauen, der sollte eines wissen: Bei der Premiere des Debütfilms der verantwortlichen Regisseurin Julia Ducournau beim Filmfestival in Toronto vor ein paar Jahren wurden einige Zuschauer ohnmächtig – oder sie klagten zumindest über Übelkeit.

Schuld daran war die schonungslose Brutalität, mit der die heute 37-jährige Filmemacherin damals die Geschichte einer 16-jährigen, hochbegabten Medizinstudentin erzählte. Die ist Veganerin, bis sie das erste Mal im Rahmen eines schrägen Rituals ein Stück blutiges Fleisch verzehrt, das in ihr die Lust auf mehr weckt. Doch steht fortan statt Schwein und Rind Mensch auf ihrem Speiseplan. In Deutschland lief der Film 2016 übrigens unter dem Titel „Raw“, aber das ist eine andere Geschichte.

Auch in „Titane“ steht wieder eine besondere Frauenfigur im Fokus, die im Umgang mit Menschen wenig zimperlich ist und deren Sexualität seltsame Blüten treibt. Hier ist das auslösende Moment allerdings kein Steak, sondern eine Titanplatte, die Alexias kindlichen Kopf nach einem Autounfall – auch ein wiederkehrendes Motiv bei Ducournau – zusammenhält. Inzwischen ist Alexia 30 Jahre alt und hat ebenfalls seltsame Gelüste entwickelt. Sie fühlt sich zu Autos hingezogen. Blechkarossen jedweder Art sind ihr deutlich lieber als Menschen, mit denen sie sich zwar auch immer mal wieder in Sachen Liebe und Sex versucht, doch endet das in aller Regel für das Gegenüber tödlich. Nur wenn sie sich im Fond eines Autos mit selbigem vergnügt, ist Alexia in ihrem Element. Doch diese Schäferstündchen haben seltsame Folgen.

Radikale Gewaltexzesse

Als nach einem besonders radikalen Gewaltausbruch mit mehreren Toten ein Phantombild von Alexia die Runde macht, beschließt sie, unter- und als jemand anders wieder aufzutauchen. Aus ihr wird Adrien, ein Junge, der vor zehn Jahren verschwand und seither von seinem Vater Vincent schmerzlich vermisst wird. Der Feuerwehrmann hinterfragt nur wenig, als auf der Polizeiwache ein Teenager sitzt, der vorgibt, sein verlorener Sohn zu sein. Und so entwickelt sich zwischen den beiden gebrochenen Persönlichkeiten eine ganz besondere Beziehung …

„Titane“ funktioniert ein bisschen wie das, was die Geschichte ins Rollen bringt: ein Autounfall. So schrecklich das Ganze auch ist, man schaut doch immer wieder hin. Allerdings schaut man eben auch immer wieder weg, denn die durchaus ästhetisch inszenierte Gewalt ist – auch akustisch – nur schwer zu ertragen. Und eben das ist das Markenzeichen der Französin Julia Ducournau, die schon mit „Grave“ alias „Raw“ von Kritikern und Publikum für ihren feministischen Ansatz, die Sozialkritik sowie die Schönheit ihrer brutalen Bilder gefeiert wurde. In dieselbe Kerbe schlägt auch „Titane“ und konnte damit die Goldene Palme beim Filmfestival in Cannes einsacken.

Fluide Körperlichkeit

Regisseurin Julia Ducournau, die auch das Drehbuch geschrieben hat, bezeichnet ihren Film selbst als queer, betont aber zugleich, dass ihr Begriff von Fluidität nicht nur Aspekte der Identität einschließt. Und so erzählt „Titane“ eine moderne, eine andere Geschichte, bei der die Grenzen eben in alle Richtungen fließend sind. Ist es ein Horrorstreifen, eine Sozialstudie, Satire oder doch ein Liebesfilm?

Alexias Obsession hat etwas Zärtliches auf der einen Seite, entlädt sich auf der anderen aber in extremer Brutalität. Gespielt wird die Figur in all ihrer beeindruckenden Körperlichkeit konsequenterweise von dem non-binären Model Agathe Rouselle, das in einer Plansequenz durch die Testosteron-geschwängerte Zuschauermenge bei einer Autoshow wandelt, um als super-heiße Tänzerin vorgestellt zu werden und im Laufe des Films immer mehr die Eindeutigkeit dieses Geschlechts zu negieren.

Wandlung zu etwas Menschlichkeit

Während die erste Hälfte des 108-minütigen Films vor allem von Gewalt und Tod geprägt ist und den Zuschauer immer tiefer in seinen Sitz drückt, ändert sich das Gefühl mit Alexias Wandlung zu Adrien und seinem Leben bei Vincent. Plötzlich schimmert sogar etwas Menschliches durch, das die äußerlich anfangs schöne, aber monsterhaft agierende Alexia bis zu diesem Punkt vermissen ließ.

Wirklich Spaß an „Titane“ hat, wer zum einen über einen starken Magen und ebenso starke Nerven verfügt und zum anderen offen ist für teils absurde und auch schon mal platte Motive. Über die Ästhetik des von Kameramann Ruben Impens Gefilmten lässt sich hingegen wenig streiten. Und so ist „Titane“ nicht nur ein bildgewaltiges Werk, sondern vor allem ein Werk voll gewalttätiger Bilder, das beim Zuschauen mehr als einmal körperliches Unbehagen auslöst, dem aber auch der außergewöhnliche Erzählansatz zugutegehalten werden muss.

@ Jörg Steinmetz Previous post Die Ärzte: „Das positivste Lied ist eins gegen Nazis“
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