Tori Amos: „Gewalt gegen Frauen hört nicht einfach auf“

Tori Amos: „Gewalt gegen Frauen hört nicht einfach auf“

Vor 30 Jahren stürmt Tori Amos mit Gefühl und Klavier die Charts. Jetzt veröffentlicht sie unter dem Titel „Ocean To Ocean“ ihr mittlerweile 15. Album. Mit ntv.de spricht die Sängerin und Feministin über die Tücken des Lockdowns und die dringend zu verhandelnden Probleme von Frauen.

Es war 1992, als die rotgelockte Tori Amos ihr Debütalbum „Little Earthquakes“ inklusive der Songs „Silent All These Years“ und „Precious Things“ veröffentlichte. Mit gefühlsbetonten Texte und nicht minder emotionalen Klaviermelodien zog sie Fans wie Kritiker ad hoc in ihren Bann. Es folgten Hits wie „Professional Widow“ und „Cornflake Girl“ und diverse weitere Alben, die es international in die Charts schafften.

Heute ist Tori Amos 58 Jahre alt, trägt das Haar weiterhin feuerrot und führt noch immer eine enge Beziehung zu ihrem Flügel. Unter dem Titel „Ocean To Ocean“ veröffentlicht die gebürtige US-Amerikanerin mit Wohnsitz im britischen Cornwall ihr mittlerweile 15. Album, mit dem sie ein emotionales Tief während des Lockdowns sowie den Tod ihrer Mutter verarbeitete. Im vergangenen Jahr erschien mit „Resistance“ (dt.: „Widerstand“) zudem ihr bereits zweites Buch. Außerdem macht sie sich seit Mitte der 1990er-Jahre gegen Gewalt gegen Frauen stark, weil sie selbst mit 21 Jahren Opfer einer Vergewaltigung wurde. Mit ntv.de spricht die Sängerin, Autorin und Feministin unter anderem über die Tücken des dritten Lockdowns und die Gefahren, denen zu viele Frauen heute ausgesetzt sind.

ntv.de: Tori, du lebst schon lange mit deinem Mann und deiner 21-jährigen Tochter in Großbritannien. Wie fühlst du dich aktuell angesichts der wieder steigenden Neuinfektionen in deiner Wahlheimat?

Tori Amos: Wir sind hier alle doppelt geimpft, auch im Studio. Die Presstermine finden von hier aus virtuell statt. Ich habe keine Ahnung, wohin sich das alles noch entwickelt, aber wir halten uns an sämtliche Empfehlungen, daher mache ich mir erstmal keine allzu großen Sorgen.

Du lebst hauptsächlich in Cornwall, bist aber auch noch in Florida beheimatet. Welchem Land fühlst du dich verbundener?

Ich bin und bleibe US-Amerikanerin. In Großbritannien bin ich nur Gast. Ich darf zwar hier sein, aber wählen kann ich beispielsweise nicht. Ich wähle in Amerika. Also ja, ich lebe in beiden Ländern, ich bin quasi „kontinental“.

Die Songs zu deinem Album entstanden im Frühjahr und Sommer des vergangenen Jahres – mitten im härtesten Lockdown – in Cornwall …

Für mich war der dritte Lockdown ein Albtraum. Der erste war noch okay. Damals gab es für mich noch keinen Grund, zusammenzubrechen. Aber dann … Das hatte sicherlich auch etwas mit der Situation in meiner Heimat zu tun, der Sturm aufs Kapitol seinerzeit. Dazu die Vorstellung, dass Live-Musik sehr lange nicht mehr stattfinden wird … Ich kann nicht genau sagen, welcher Tropfen das Fass am Ende zum Überlaufen gebracht hat. Aber vor der Pandemie war mein Leben komplett anders. Dann saß ich 18 Monate lang in Großbritannien fest. Ich bin nicht gereist, habe das Land nicht verlassen, das ist vorher noch nie vorgekommen. Reisen ist eigentlich mein Leben, ich bin quasi 30 Jahre lang ständig auf Tour gewesen.

Mal ein bisschen herunterzufahren, wie viele es in dieser Zeit angeblich – zumindest anfänglich – genossen haben, das war nicht so dein Ding?

Klar ist es immer gut, ein bisschen Zeit für sich zu haben. Das ist gar keine Frage. Und vielleicht war auch ich vorher zu schnell und zu viel unterwegs. Es war damals gerade eine Lesetour mit meinem Buch für 2020 geplant, die wir schließlich virtuell abhalten mussten. Und vier Monate später sollte es auch mit neuer Musik auf die Bühne gehen. Für einige Menschen mag es okay gewesen sein, nicht herausgehen zu können. Mir haben Leute geschrieben, die waren sogar froh darüber, nun nicht mehr erklären zu müssen, warum sie lieber daheim bleiben. Aber für einen Musiker funktioniert das nicht. Wir konnten mehr als 18 Monate lang praktisch nicht arbeiten, das ist eine völlig andere Realität.

Für dich selbst als jemand, der so lange erfolgreich im Geschäft ist und finanziell abgesichert, war das monetär zumindest kein Problem. Anders sieht das bei den Leuten aus, die als Techniker, Bühnenbauer und so weiter von Events leben und plötzlich ohne Einkommen dastanden …

Richtig, viele von ihnen mussten die Licht-, Technik- und Catering-Firmen verlassen, um sich etwas anderes zu suchen. Auch das ist Realität. Sie waren zum Teil 25 Jahre lang in ihren Jobs und konnten sie plötzlich nicht mehr ausführen.

Nun fehlen in Großbritannien gerade nicht nur LKW-Fahrer und Schlachter, sondern auch Türsteher für die Clubs. Wie viele Probleme wird der Veranstaltungsbranche zukünftig wohl fehlendes Personal bereiten?

Ich bin froh, dass du das ansprichst, denn Fragen wie diese werden zu selten gestellt. Den meisten Leuten fehlt der Blick dafür, ihnen ist dieses Problem überhaupt nicht bewusst. Allerdings ist die Antwort darauf auch eher unbequem. Denn das sind alles Jobs, für die man bestimmte Fähigkeiten braucht, das macht man nicht mal eben so. Und man braucht die passende Persönlichkeit. Du bist als Musiker mit den Leuten wochenlang Nacht für Nacht im Tourbus unterwegs, da willst du ja auch nicht jeden mitnehmen. (lacht) Und es geht eben auch um Berufserfahrung, wie man seinen Job macht und wie man ihn gut und richtig macht. Es ist eine Herausforderung, Menschen zu finden, die wissen, was sie tun. Und es ist passiert, dass du die Leute gebucht hast, dann aber canceln musstest. Natürlich haben die sich was anderes gesucht, suchen müssen, und nun haben sie Verpflichtungen. Solches Personal ersetzt man nicht durch Berufseinsteiger.

Hast du dein Team für die Tour im kommenden Jahr, die im Februar in Berlin startet, denn schon zusammen?

Ich bin in der glücklichen Lage, dass die Crew, die mich schon seit vielen Tourneen begleitet, sehr loyal ist und nicht bereits anderen Künstlern zugesagt hat. Ich werde also auf jeden Fall dort sein. Versprochen. (lacht)

Neben der Pandemie an sich stellt auch die Spaltung der Gesellschaft – zum Beispiel durch die Impf-Diskussion – gerade ein echtes Problem dar. Inwieweit verfolgst du diese Entwicklung – vielleicht auch oder gerade in den sozialen Medien?

Ich versuche, mich aus solchen Diskussionen herauszuhalten. Was ich aber weiß, ist, dass die ganze Situation die mentale Gesundheit vieler Menschen angreift. Ich weiß gar nicht, ob mentale Gesundheit der richtige Begriff ist, aber ein Lockdown greift eben den emotionalen Zustand der Menschen an. Er hat Konsequenzen, und die Frage ist, wie wir lernen, damit umzugehen. Ich bin keine Medizinerin, aber ich bekomme Post von Leuten, die mental wirklich mit der Isolation zu kämpfen haben. Diese emotionale Seite darf man neben all den anderen Covid-Sorgen nicht vergessen.

Dir hilft es, in solchen Momenten Songs über deine Ängste und Sorgen zu schreiben. Diese Songs wiederum helfen den Hörern deiner Musik, mit ihren eigenen Ängsten und Sorgen umzugehen …

Genau, für mich ist das mehr als nur Therapie. Es ist eher eine magische Anordnung. Klar kann ich einfach nur Songs schreiben, um mich selbst zu therapieren, aber ob die dann jemand hören will?! Ich würde dann quasi nur über mich selbst singen, wie andere das vielleicht in der Dusche tun. Man muss schon etwas finden, das die Leute für sich beanspruchen können, wenn sie ihre Kopfhörer aufsetzen. Es muss egal sein, dass ich hier in Cornwall sitze und sie vielleicht irgendwo in Deutschland. Aber das gelingt mir nicht immer. Gerade zu Anfang der Pandemie fehlte mir diese Magie. Dann aber hat mich Mutter Natur aufgeweckt und mir gezeigt, worum es wirklich geht. Ich musste das, was ich sah und fühlte, in Songs verpacken.

Gab es schon mal Momente, in denen dir die Magie fehlte und du ernsthaft Sorge hattest, sie käme nie wieder zurück?

Das ist das brutale Monster, mit dem man als Künstler oft zu kämpfen hat, das ich aber nicht füttere. Manche meiner Freunde sitzen da und trinken mit dem Monster, andere gehen Beziehungen mit dem Monster ein. Ich versuche, es von mir fernzuhalten, aber natürlich kenne ich es. Ich habe entschieden, die Dinge lieber anders zu sehen. Der Winter ist doch zum Beispiel ziemlich furchtbar, aber ich sehe es eher so, dass Mutter Natur damit beschäftigt ist, sich zu erneuern. Sie durchläuft einen Prozess, und ich kann mir in der Zeit noch so sehr wünschen, es würden pinke Rosen wachsen, das passiert einfach nicht, und das akzeptiere ich. Dafür gibt es tollen Schnee in Wiesbaden …

Wie bitte kommst du ausgerechnet auf Wiesbaden?

Ich habe irgendwas über die Hexenprozesse in Wiesbaden im 17. Jahrhundert gehört. (lacht) Aber ich war auch schon mal im Rheingau.

Sicherlich nicht die beste Überleitung, aber kommen wir von Hexerei zu Feminismus. Du machst dich seit Jahrzehnten für die Rechte von Frauen stark, und noch immer gibt es hier viel zu tun. Wo siehst du aktuell die größte Schwachstelle im System?

Wo fange ich da nur an? Ich weiß nicht, ob du die Geschichte von Sarah Everard kennst, die im Frühjahr in London von einem Elite-Polizisten brutal getötet wurde. Frauen in Großbritannien wollen ausgehen und sich sicher fühlen können. An verschiedenen Orten in Großbritannien werden sie dafür übrigens am Freitag, zufälligerweise dem Veröffentlichungsdatum meines Albums, demonstrieren. Frauen haben genug davon, dass ihre Drinks mit K.o.-Tropfen versetzt werden, was hier gerade viel passiert.

Warum wird dagegen so wenig unternommen?

Die Polizei nimmt das nicht ernst genug. Sie begreift den Umfang, die Größe des Problems von Gewalt gegen Frauen gar nicht. Darüber muss diskutiert werden. Und es sind meist nicht Fremde, die so etwas Fremden antun. Opfer und Täter kennen sich in der Regel. Es gibt die Netflix-Doku „Audrie & Daisy“, zu der ich einen Song beigesteuert habe. (Die Doku von 2016 handelt von zwei Mädchen, die bei sexuellen Übergriffen durch Freunde gefilmt wurden und daraufhin Cyber-Mobbing ausgesetzt waren. Audries späterer Selbstmord ist Aufhänger der Geschichte. – Anm. d. A.) Auch Daisy lebt heute nicht mehr, weil sie es nicht länger ertragen hat. Das alles hört nicht einfach auf, ebenso wenig wie häusliche Gewalt, die durch die Pandemie sogar noch zugenommen hat. Es gibt so viele Probleme um dieses Thema herum, die wir sehen und angehen müssen.

Alles in allem ist das doch sehr frustrierend, wenn man sieht, wie lange das alles schon so ist und wie wenig sich verändert. Hast du noch Hoffnung?

Hoffnung ist ganz wichtig. Es muss einen Platz der Hoffnung, der Magie, der Heilung geben – für Männer, Frauen die LGBTQ+-Community … Wer missbraucht oder angegriffen wird, braucht einen Ort, wo er sich sicher fühlen kann. Solche Orte müssen wir schaffen. Mental durch Zuspruch und Unterstützung – aber auch Orte, die wir wirklich physisch ansteuern können, um Schutz zu finden.

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